Mein Besuch in Moskau und die Zukunft der Beziehungen zwischen der EU und Russland

„Mein Treffen mit Minister Lawrow wie auch die Signale, die während meines Besuchs von der russischen Regierung ausgesendet wurden, haben bestätigt, dass Europa und Russland immer weiter auseinanderdriften.“
Ich bin soeben von einem sehr komplizierten Besuch in Moskau zurückgekehrt, auf dem ich eigentlich die Spannungen in den Beziehungen zwischen der EU und Russland erörtern wollte. Schon seit einigen Jahren sind unsere Beziehungen stark belastet, und durch die jüngsten Ereignisse um die Vergiftung, Verhaftung und Verurteilung von Alexei Nawalny und die damit verbundenen Massenverhaftungen Tausender Demonstranten steuern sie auf einen neuen Tiefpunkt zu. Mit meinem Besuch wollte ich persönlich klar zum Ausdruck bringen, dass die EU diese Ereignisse entschieden verurteilt, aber auch durch prinzipiengeleitete Diplomatie eine weitere Verschlechterung unserer Beziehungen zu Russland verhindern und einen Beitrag zur Vorbereitung der bevorstehenden Gespräche im Rahmen des Europäischen Rates über die Beziehungen zwischen der EU und Russland leisten.
„Die russische Regierung wollte diese Gelegenheit zu einem konstruktiveren Dialog mit der EU nicht nutzen. Das ist bedauerlich, und wir werden Konsequenzen daraus ziehen müssen.“
Eine aggressiv inszenierte Pressekonferenz und die Ausweisung dreier EU-Diplomaten während meines Besuchs zeigen, dass Russland kein Interesse an einem konstruktiveren Dialog mit der EU hat. Dies kam zwar nicht völlig unerwartet, ist aber meines Erachtens auch für Russland aus strategischer Sicht bedauerlich. Als EU werden wir daraus Konsequenzen ziehen und sorgfältig darüber nachdenken müssen, welche Richtung wir unseren Beziehungen zu Russland geben wollen, und dabei mit Einigkeit und Entschlossenheit auftreten.
„Als ich gegenüber meinem russischen Amtskollegen die sofortige und bedingungslose Freilassung von Herrn Nawalny sowie eine umfassende und unparteiische Untersuchung des Mordversuchs gefordert habe, wurde der Gesprächston deutlich schärfer.“
Im Mittelpunkt meines Besuchs und meines Austauschs mit Außenminister Lawrow standen vor allem Menschenrechtsfragen und Grundfreiheiten, insbesondere der Fall Alexei Nawalny. Die Gespräche mit meinem russischen Amtskollegen wurden extrem angespannt, als ich die sofortige und bedingungslose Freilassung von Herrn Nawalny sowie eine umfassende und unparteiische Untersuchung des Mordversuchs gefordert habe. Ich erinnerte Minister Lawrow daran, dass die Verpflichtungen Russlands im Bereich der Menschenrechte auf internationalen Verpflichtungen (d. h. der Europäischen Menschenrechtskonvention des Europarats) beruhen, die das Land freiwillig eingegangen ist. Sie können daher nicht einfach als Einmischung in innere Angelegenheiten abgetan werden. Im Pressebriefing habe ich diese Punkte wiederholt.
Ich habe auch Vertreter der Zivilgesellschaft, von Think Tanks und aus der europäischen Wirtschaft getroffen. Trotz enormer Herausforderungen und eines schrumpfenden Handlungsspielraums spielt die Zivilgesellschaft weiterhin eine entscheidende Rolle bei der Förderung der Achtung der Demokratie, der Grundfreiheiten und der Menschenrechte. Ihrer Arbeit und dem, was sie repräsentiert gilt mein Respekt. Um unsere Unterstützung zu signalisieren, hat mein Team Kontakt zum engen Kreis um Herrn Nawalny aufgenommen. Leider konnte ich ihn selbst nicht treffen, da er während meines Besuchs vor Gericht stand. Ich habe in meiner Rede zur Würdigung des ehemaligen Oppositionsführers Boris Nemzow auf der Brücke, auf der er vor sechs Jahren ermordet wurde, erneut die Unterstützung der EU für Menschenrechte und politische Freiheiten betont.
Bei meinem Austausch mit Außenminister Lawrow haben wir neben Menschenrechtsfragen und unterschiedlichen Standpunkten auch weiterreichende Aspekte unserer Beziehungen angesprochen, u.a. das Potenzial für eine Zusammenarbeit bei der Bewältigung globaler Herausforderungen wie der COVID-19-Pandemie, der Klimakrise und der Frage der arktischen Gebiete – all dies Bereiche, in denen wir gemeinsame Interessen finden könnten.
Wir haben auch Konflikte in unserer unmittelbaren Nachbarschaft erörtert, und ich habe darauf bestanden, dass es Fortschritte bei der vollständigen Umsetzung des Minsker Vereinbarung und der Achtung der territorialen Unversehrtheit der Ukraine geben müsse. Ich habe mich auch dafür eingesetzt, dass der seit sechs Monaten lautstark und klar formulierten Forderung des belarussischen Volkes, seinen Präsidenten frei wählen zu können, Rechnung getragen werden muss. Die Achtung der territorialen Unversehrtheit Georgiens, die Lage in Bergkarabach und die Krisen in Syrien und Libyen gehörten ebenfalls zu den Themen, mit denen wir uns bei der Bestandsaufnahme unserer krisengeplagten Nachbarschaft befasst haben, über die Russland und die Europäische Union meist uneins sind. Dabei habe ich stets betont, dass die OSZE-Verpflichtungen, einschließlich der Achtung der territorialen Integrität, uneingeschränkt eingehalten werden sollten.
Wir haben ferner anerkannt, dass eine gute Zusammenarbeit im Rahmen der Atomvereinbarung mit Iran (JCPOA) fortgesetzt werden muss und dass ein gemeinsames Engagement bei der Unterstützung der Bemühungen um Frieden und Aussöhnung im Konflikt zwischen Palästina und Israel möglich sei.
„Mein Treffen mit Minister Lawrow hat bestätigt, dass Europa und Russland dabei sind auseinanderzudriften. Russland scheint sich zunehmend von Europa abzukoppeln.“
Ich hatte diese Reise geplant, um die Standpunkte der EU darzulegen und unsere grundlegenden Bedenken zu unterstreichen, aber auch um in bestimmten Bereichen, in denen unsere Interessen übereinstimmen, Möglichkeiten einer Zusammenarbeit und einer gewissen Vertrauensbildung auszuloten. Bedauerlicherweise mussten wir ganz am Ende unseres Treffens aus den sozialen Medien von der Ausweisung von drei EU-Diplomaten erfahren, denen zu Unrecht vorgeworfen wurde, ihre Teilnahme an Demonstrationen sei mit ihrem Status als ausländische Diplomaten unvereinbar. Ich bat Außenminister Lawrow, diese Entscheidung rückgängig zu machen – ohne Erfolg.
Tief besorgt über die Entwicklungsperspektiven der russischen Gesellschaft und die geostrategischen Entscheidungen Russlands bin ich nach Brüssel zurückgekehrt. Mein Treffen mit Außenminister Lawrow und die Reaktionen der russischen Regierung während dieses Besuchs haben bestätigt, dass sich die Gräben zwischen Europa und Russland vertiefen. Russland scheint sich schrittweise von Europa abzukoppeln und demokratische Werte als existenzielle Bedrohung zu betrachten.
Wir stehen an einem Scheideweg. Die strategischen Entscheidungen, die wir jetzt treffen, werden über die internationale Machtdynamik im 21. Jahrhundert und insbesondere die Frage entscheiden, ob wir uns – auf der Grundlage geschlossener oder freierer Gesellschaften – auf kooperativere oder aber auf stärker polarisierte Modelle zubewegen werden. Die Europäische Union kann diese Entwicklungen beeinflussen, wenn sie eine eindeutige Vision und klare Ziele mit intensivem diplomatischen Engagement verfolgt, das sich auf unsere zahlreichen Instrumente des auswärtigen Handelns und der politischen Einflussnahme stützen kann.
Wir werden diese Fragen mit meinen EU-Amtskolleginnen und -kollegen erörtern. Wie immer wird es Sache der Mitgliedstaaten sein, über die nächsten Schritte zu entscheiden – und ja, da könnte es auch um Sanktionen gehen. Hierfür steht uns mit der kürzlich angenommenen EU-Sanktionsregelung im Bereich der Menschenrechte jetzt noch ein weiteres Instrument zur Verfügung.
Vor welcher Herausforderung wir hier stehen, ist klar. Sich zu verbarrikadieren und andere aus sicherer Entfernung zum Handeln aufzufordern, wird der EU nicht zu mehr Sicherheit verhelfen. Und so sehe ich auch meine Rolle als erster Diplomat der EU nicht. Wir müssen den Herausforderungen ins Auge sehen, uns auch auf das Terrain der Gegenseite wagen, gerade dann, wenn sich negative Ereignisse abzeichnen. Nur so können wir die Lage und den Handlungsbedarf besser einschätzen. Ich ziehe diese Vorgehensweise einer reaktiven, abwartenden Haltung vor. Wenn wir morgen eine sicherere Welt wollen, müssen wir heute entschlossen handeln und bereit sein, auch Risiken einzugehen.
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