Die Coronavirus-Pandemie und die dadurch geschaffene neue Welt

23.03.2020

23/03/2020 - COVID 19 wird unsere Welt verändern. Wir wissen noch nicht, wann die Krise enden wird. Wir können jedoch sicher sein, dass unsere Welt nach der Krise eine ganz andere sein wird. Wie anders, hängt von den Entscheidungen ab, die wir heute treffen.

 

COVID‑19 wird unsere Welt verändern. Wir wissen noch nicht, wann die Krise enden wird. Wir können jedoch sicher sein, dass unsere Welt nach der Krise eine ganz andere sein wird.

 

Die COVID‑19-Krise ist kein Krieg, doch sie ähnelt insofern einem Krieg, als sie die Mobilisierung und den Einsatz von Ressourcen in einem nie dagewesenen Ausmaß erfordert. Solidarität zwischen den Ländern und die Bereitschaft, Opfer für das Gemeinwohl zu bringen, sind nun von entscheidender Bedeutung. Nur wenn wir alle an einem Strang ziehen und über Grenzen hinweg zusammenarbeiten, können wir das Virus besiegen und seine Folgen eindämmen – und der EU kommt dabei eine maßgebliche Rolle zu. Das war der klare und einhellige Standpunkt der EU-Außenministerinnen und ‑minister, als sie am 23. März per Videoschaltung über die Krise berieten.

Manchmal hört man, dass Kriege nicht durch Taktik oder gar Strategie gewonnen werden, sondern durch Logistik und Kommunikation. Bei COVID‑19 scheint sich dies zu bewahrheiten: Wer am besten die Reaktion organisiert, rasch Lehren aus den weltweiten Erfahrungen zieht und überzeugend mit seinen Bürgerinnen und Bürgern und der ganzen Welt kommuniziert, wird nach der Krise in der stärksten Position sein.

Derzeit gibt es einen weltweiten Kampf der Narrative, bei dem der Zeitpunkt ein maßgeblicher Faktor ist. Im Januar herrschte die Meinung vor, dass es sich um eine lokale Krise in der Provinz Hubei handele, die durch die Vertuschung wichtiger Informationen seitens chinesischer Parteifunktionäre verschärft wurde. Europa schickte eine Menge medizinischer Ausrüstung, um den damals von der Situation überforderten chinesischen Behörden zu helfen. Inzwischen hat China die lokalen Neuinfektionen auf einstellige Werte verringern können und schickt nun seinerseits Ausrüstung und Ärzte nach Europa, wie dies auch andere tun. China verbreitet aggressiv die Botschaft, dass es im Gegensatz zu den USA ein verantwortungsvoller und zuverlässiger Partner ist. Beim Kampf der Narrative haben wir auch erlebt, dass versucht wurde, die EU als solche zu diskreditieren, und es gab auch einige Fälle, in denen Europäer stigmatisiert wurden, als ob alle Träger des Virus wären.

Für Europa lässt sich Folgendes festhalten: Wir können sicher sein, dass sich die Wahrnehmung in dem Maße ändern wird, wie sich der Ausbruch und unserer Reaktion darauf weiterentwickeln. Uns muss allerdings bewusst sein, dass es auch eine geopolitische Komponente gibt, wozu auch ein Ringen um Einfluss durch Propaganda und die „Politik der Großzügigkeit“ gehört. Wir müssen Europa mit Fakten gegen diejenigen verteidigen, die es verleumden.

Allerdings herrscht auch innerhalb von Europa ein Kampf der Narrative. Es ist eminent wichtig, dass die EU zeigt, dass sie eine Union ist, die schützt, und dass Solidarität keine leere Phrase ist. Nach der ersten Welle, bei der vorrangig die nationalen Behörden tätig waren, rückt nun die EU mit gemeinsamen Maßnahmen in allen Bereichen, in denen sie von den Mitgliedstaaten zum Handeln ermächtigt ist, in den Vordergrund: mit der gemeinsamen Beschaffung lebenswichtiger medizinischer Ausrüstung, mit gemeinsamen Konjunkturmaßnahmen und einer notwendigen Lockerung der Haushalts‑ und Beihilfevorschriften.

Die Rolle der EU hat auch eine wichtige externe Komponente. Wir unterstützen die Mitgliedstaaten bei ihren konsularischen Bemühungen und helfen ihnen, im Ausland festsitzende Europäerinnen und Europäer nach Hause zu bringen. So konnten beispielsweise in der vergangenen Woche dank gemeinsamer Anstrengungen in Marokko rund 30.000 EU‑Bürgerinnen und ‑Bürger zurückgeholt werden. Dies zeigt, dass wir gemeinsam etwas erreichen können.

Es bleibt noch viel mehr zu tun. Weltweit sind ca. 100.000 europäische Reisende bei Botschaften oder Konsulaten vor Ort registriert, doch die tatsächliche Zahl derjenigen, die nach Hause zurückkommen müssen, liegt deutlich höher.

Eine globale Pandemie erfordert globale Lösungen und die EU muss an vorderster Front stehen. Ich stehe mit Partnern in der ganzen Welt von Asien und Lateinamerika bis Afrika in Kontakt, um dabei mitzuwirken, dass es zu einer koordinierten internationalen Reaktion kommt. In Krisen kapseln sich die Menschen häufig instinktiv ab, schließen Grenzen und kümmern sich zuerst um sich selbst. Dieses Verhalten ist zwar verständlich jedoch kontraproduktiv. Die COVID‑19-Krise kann nicht in einem Land oder im Alleingang gelöst werden. Der Versuch würde lediglich bedeuten, dass wir alle länger zu kämpfen hätten und dass dies mit höheren Kosten im menschlichen und wirtschaftlichen Bereich einhergehen würde.

Stattdessen sollten wir uns dafür einsetzen, die internationale Zusammenarbeit in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik drastisch auszuweiten. Auf Ebene der VN, der WHO und des IWF. Auf Ebene der G7 und der G20 und in anderen internationalen Gremien. Wir müssen die Ressourcen für die Suche nach Behandlungsmöglichkeiten und die Entwicklung eines Impfstoffs bündeln. Wir müssen den wirtschaftlichen Schaden begrenzen, indem haushalts‑ und währungspolitische Konjunkturmaßnahmen koordiniert und der Warenhandel aufrechterhalten werden. Wir müssen bei der Wiederöffnung der Grenzen zusammenarbeiten, wenn die Wissenschaft uns dafür grünes Licht gibt. Und gegen Desinformationskampagnen im Internet vorgehen. Dies ist die Zeit für Solidarität und Zusammenarbeit, nicht für Schuldzuweisungen, die keinen einzigen Menschen heilen.

Die Notlage bei uns ist zwar groß, doch die EU sollte auch bereit sein, andere in prekärer Lage, die von der Situation überfordert zu sein drohen, zu unterstützen. Denken Sie nur an die Flüchtlingslager in Syrien und was passieren würde, wenn COVID‑19 dort ausbräche, wo die Menschen bereits so viel Leid erfahren haben. In dieser Hinsicht gibt Afrika Anlass zu großer Sorge. Aufgrund von Ebola liegen die Erfahrungen mit der Bewältigung einer Pandemie dort zwar nicht so lange zurück wie in Europa, doch die Gesundheitssysteme sind überall sehr schwach und ein vollständiger Ausbruch wäre verheerend. Soziale Distanzierung und häusliche Isolation sind in den dicht besiedelten Ballungsräumen Afrikas ungleich schwieriger. In Afrika bestreiten Millionen von Menschen ihren Lebensunterhalt in der informellen Wirtschaft und werden den Ausbruch ohne ein soziales Sicherheitsnetz überstehen müssen. Schon vor dem Auftreten des Virus in Afrika musste der Kontinent wie auch andere aufstrebende Volkswirtschaften einen massiven Kapitalrückzug bewältigen.

Andernorts könnten Länder wie Venezuela oder Iran durchaus zusammenbrechen, wenn wir sie nicht unterstützen. Dies bedeutet, dass wir dafür sorgen sollten, dass sie Zugang zu IWF‑Hilfe erhalten. Im Falle von Iran müssen wir sicherstellen, dass der rechtmäßige Handel für humanitäre Zwecke trotz der US-amerikanischen Sanktionen fortgesetzt werden kann.

Wir dürfen auch nicht vergessen, dass keines der anderen Probleme, die uns vor der Corona-Krise beschäftigt haben, verschwunden ist. Sie könnten sich sogar noch verschlimmern. COVID‑19 könnte einige der länger andauernden Konflikte in der Region durchaus verschärfen. Europa musste bereits in einer Welt zunehmender geopolitischer Spannungen – insbesondere zwischen den USA und China – seinen Weg finden. Auch hier besteht die Gefahr, dass COVID‑19 bereits bestehende Tendenzen verstärkt.

Insgesamt besteht die Aufgabe der EU darin, den Kritikern die Stirn zu bieten und ganz konkret zu beweisen, dass sie in Krisenzeiten wirksam und verantwortungsvoll handeln kann. Jean Monnet schrieb in seinen Memoiren: „Europa wird in Krisen geschmiedet, und es wird einst die Summe der Lösungen sein, die man für diese Krisen ersonnen hat.“ Möge diese Philosophie uns leiten, da wir diese Krise bekämpfen und uns auf das vorbereiten, was danach kommt.

 

Weitere Blogeinträge des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell