THIS CONTENT HAS BEEN ARCHIVED

Europas Energieversorgung – ein Balanceakt

Blog des Hohen Vertreters und Vizepräsidenten: Schwierige Zeiten für Europa – die Energiepreise steigen, das Wirtschaftswachstum sinkt und der Winter naht. Der Kreml setzt Energie als politische Waffe ein. Wir müssen uns auf eine mögliche Erdgassperre vorbereiten, vor allem indem wir Energie sparen, die Quellen diversifizieren und Solidarität untereinander üben. Gleichzeitig müssen wir zügiger in erneuerbare Energien investieren und eine globale Kampagne für Energieeffizienz und Energieeinsparungen führen, damit auch künftig alle Menschen Zugang zu nachhaltigen Energien haben, ohne dass die Belastungsgrenzen unseres Planeten überschritten werden.

 

Bei der Energieversorgung steht Europa vor einem Dilemma: Es muss seine kurzfristigen Ziele – unabhängig von russischem Öl und Gas zu werden und durch den Winter zu kommen – mit seinen langfristigen Netto-Null-Zielen im Rahmen des Grünen Deals in Einklang bringen. Zudem muss es sicherstellen, dass seine internen Entscheidungen mit seinen externen Verpflichtungen vereinbar sind. Es hat keinen Sinn, so zu tun, als ließe sich dies einfach, billig und ohne Zugeständnisse bewerkstelligen. Aber es ist möglich, wenn wir ernsthaft in Energieeinsparungen, erneuerbare Energien und Solidaritätsmaßnahmen investieren, sowohl bei uns als auch weltweit.

Kurzfristige Ziele

Einen Winter gibt es jedes Jahr, aber der kommende Winter wird voraussichtlich anders ausfallen als gewohnt. Es ist nämlich ganz und gar ungewiss, ob die EU über genug Erdgas (d. h. eine ausreichende Menge davon) verfügen wird und ob es erschwinglich sein wird (d. h. zu welchem Preis). Die Ölpreise sind zwar wieder auf das Niveau zu Beginn des Ukraine-Krieges gesunken, doch die Gaspreise sind mehr als viermal so hoch wie Ende Februar und fast zehnmal so hoch wie vor einem Jahr.

Wir wissen, warum. Der Energiepreise steigen nicht erst seit dem 24. Februar, doch hat Russlands Aggression diese Entwicklung – wie viele andere Probleme – noch verschlimmert. Russland setzt Energie als Waffe ein: Es hat seine Lieferungen an zwölf Mitgliedstaaten bereits gekürzt oder gesenkt und damit eindeutig Vertragsbruch begangen. Letzte Woche hat es seine Lieferungen über Nord Stream 1 auf nur 20 % der normalen Kapazität heruntergefahren. Indem es für Engpässe und Nervosität auf dem Markt sorgt, bewirkt es genau die Preiserhöhungen, von denen es selbst profitiert. Wir sollten uns auf alle Szenarien vorbereiten, auch darauf, dass Russland sämtliche Lieferungen einstellt, wenn es ihm passt.

Es ist uns bereits gelungen, den Anteil der russischen Gasimporte insgesamt von 40 % zu Jahresbeginn auf inzwischen rund 20 % zu senken.”

Es ist uns bereits gelungen, den Anteil der russischen Gasimporte insgesamt von 40 % zu Jahresbeginn auf inzwischen rund 20 % zu senken, hauptsächlich durch verstärkten Ankauf von Flüssigerdgas, dessen Anteil am Gasverbrauch sich von 19 % auf 37 % nahezu verdoppelt hat. Auch bei der Beschaffung von Pipeline-Gas aus Norwegen, Algerien und Aserbaidschan haben wir Fortschritte gemacht. Auf der Tagung des Kooperationsrates EU-Aserbaidschan im Juli, bei der ich Ko-Vorsitzender war, haben wir die kurz davor unterzeichnete Vereinbarung über eine strategische Partnerschaft im Energiebereich begrüßt. Auf längere Sicht sind bei dieser Diversifizierung weitere Fortschritte zu erwarten. Aber die bittere Wahrheit ist, dass wir bei den zusätzlichen Erdgasmengen, die wir für diesen Winter von nichtrussischen Quellen beziehen können, allmählich an Grenzen stoßen. Somit muss die Lücke größtenteils durch Energieeinsparungen, d. h. Senkung der Nachfrage, wettgemacht werden.

Reduzierung des Gasverbrauchs der EU um 15 %

Nach Schätzungen der Experten des Think Tanks Bruegel und der Kommission müssen wir den Erdgasverbrauch in der EU insgesamt um 15 % senken, um einen vollständigen Ausfall russischer Lieferungen auszugleichen. Natürlich würde ein möglicher russischer Lieferstopp die EU-Länder in sehr unterschiedlichem Maße belasten und vor Probleme stellen. Am 26. Juli hat der Rat ein wichtiges Maßnahmenbündel beschlossen. Zentraler Punkt darin ist das genannte Ziel, insgesamt 15 % Erdgas einzusparen. Allerdings sollen die unterschiedlichen Gegebenheiten und Anstrengungen der Mitgliedstaaten berücksichtigt werden, beispielsweise inwieweit es Infrastrukturen gibt, die einzelne Länder mit ihren Nachbarländern verbinden. Bislang ist dies noch ein freiwilliges Ziel, aber wenn die Umstände es erfordern, können die Mitgliedstaaten beschließen, die Einsparungen verbindlich vorzuschreiben.

Im Kern geht es darum, wie wir uns auf einen harten Winter vorbereiten und wie wir für Solidarität untereinander sorgen, indem wir Risiken und Ressourcen bündeln. Wir müssen eine echte Energieunion aufbauen.

Im Kern geht es darum, wie wir uns auf einen harten Winter vorbereiten und wie wir für Solidarität untereinander sorgen, indem wir Risiken und Ressourcen bündeln. Diese Diskussion ist uns in Europa vertraut: Vergleichbares haben wir zu Beginn der Pandemie erlebt. Zunächst neigten die EU-Länder zu Alleingängen, aber dann haben sie sich sehr richtig und mit Erfolg für eine gemeinsame Beschaffung von Impfstoffen entschieden und damit sichergestellt, dass alle EU-Bürgerinnen und -Bürger gleichberechtigten Zugang zu lebensrettenden Impfstoffen haben.

Nach der Annexion der Krim durch Russland haben wir versäumt, eine echte EU-Energieunion aufzubauen, die auf Diversifizierung und Verringerung der Abhängigkeit von Russland und auf Investitionen in Energieeffizienz und heimische und klimaschonende erneuerbare Energien beruht. Diesmal steht noch mehr auf dem Spiel: Wir können es uns nicht leisten, diesen Fehler zu wiederholen.

Der größere Kontext

Wenn wir in Europa über unsere derzeitigen Energieprobleme nachdenken und vor allem auf Einsparungen setzen, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass für die überwiegende Mehrheit der Menschheit die Herausforderung darin besteht, mehr Energie zu erhalten: Nach Angaben der IEA haben 600 Mio. Menschen in Afrika keinen sicheren Zugang zu Strom. Die demografischen und wirtschaftlichen Entwicklungen zeigen deutlich, dass wir bei der Energieeffizienz und den erneuerbaren Energien erheblich schneller vorankommen müssen, damit wir die steigende Nachfrage weltweit decken können, ohne dass der Klimawandel außer Kontrolle gerät. Deshalb ist die Energie- und Klimadiplomatie der EU seit vielen Jahren darauf ausgerichtet, längerfristige Partnerschaften zu schmieden, mit Investitionen, Technologien und Finanzen. Ein gutes Beispiel hierfür sind unter anderem unsere vielversprechenden Bemühungen um den Aufbau von Partnerschaften für einen gerechten Übergang, zunächst mit Südafrika, aber auch mit anderen Ländern.

Obwohl wir kurzfristig fossile Brennstoffe brauchen werden, um die Lieferungen aus Russland teilweise zu ersetzen, treten wir keineswegs für eine globale Renaissance fossiler Brennstoffe ein.”

Obwohl wir kurzfristig fossile Brennstoffe brauchen werden, um die Lieferungen aus Russland teilweise zu ersetzen, treten wir keineswegs für eine globale Renaissance fossiler Brennstoffe ein. Wir müssen vor allem darauf achten, dass wir das Problem der “gestrandeten Vermögenswerte” der Erzeuger fossiler Brennstoffe nicht noch verschärfen. Deshalb arbeiten wir mit unseren Partnern auch im Hinblick auf die Herstellung von und den Handel mit sauberem Wasserstoff zusammen. Sauberer Wasserstoff könnte eine wichtige neue Energiequelle werden, wobei einige der bestehenden Infrastrukturen, auch Pipelines, einem neuen Zweck zugeführt werden könnten. Dies zählt zu den Prioritäten der EU-Strategie für die Golfregion, die wir im vergangenen Mai angenommen haben. Ein Großteil des alternativen Gasbedarfs der EU ließe sich zudem ganz einfach durch eine bessere Wartung der Produktions- und Transitanlagen für Öl und Gas decken, denn nach Schätzungen der IEA gehen über 50 Mrd. m³ an Gas durch Lecks, Abfackeln oder Entlüften verloren. Dies entspricht etwa der Menge, die wir benötigen, um eine mögliche Abschaltung der Gaszufuhr durch Russland auszugleichen. Es würde zudem erhebliche Vorteile für das Klima bringen.

Die allerbeste Energie ist die Energie, die wir nicht brauchen

Vor allem aber gilt nach wie vor: Die allerbeste Energie ist die Energie, die wir nicht brauchen. Darum muss der Einsparung von Energie und der Steigerung der Energieeffizienz der Vorrang eingeräumt werden, den sie schon längst verdient hat. In der EU unternehmen wir nun ernsthafte Anstrengungen zur Senkung der Nachfrage. Die Kommission hat vorgeschlagen, das verbindliche Energieeffizienzziel bis 2030 auf 13 % anzuheben und zusätzlich Einsparmaßnahmen in der Industrie, im Gebäudesektor und in anderen Bereichen zu ergreifen.

Nur so können wir durch den nächsten Winter kommen, aber auch die erforderliche Glaubwürdigkeit erwerben, um international Schwerpunkte zu setzen und vor der VN-Generalversammlung und der COP 27 in Kairo eine weltweite Bewegung für Energieeinsparungen und Energieeffizienz in Gang zu setzen. Dabei können wir uns von der Global Methane Pledge inspirieren lassen, die ein echter Erfolg der EU-Klimadiplomatie war: Die EU hatte den Pakt vorgeschlagen, und die Vereinigten Staaten hatten sich angeschlossen, und am Ende haben ihn 110 Länder, auf die 70 % der Weltwirtschaft entfallen, unterzeichnet. Wir brauchen eine ähnliche globale Kampagne für Energieeffizienz und Energieeinsparungen, und ich werde mich in den nächsten Monaten bemühen, die dafür notwendige Koalition zustande zu bringen.