Solidarität mit dem Venezolanischen Volk - Josep Borrell and Arancha González Laya

26.05.2020

Das Coronavirus hat die Kontrolle über unser individuelles und kollektives Leben übernommen. Seit mehr als zwei Monaten ist die ganze Welt beherrscht von einem Lockdown von Menschen, Städten und Ländern, und folgt den Zahlen der Infizierten, Geheilten und Toten.

 

Die Diskussionen dieser globalen Gesundheitsfragen lenkt die Aufmerksamkeit von anderen Probleme, ab, die vor allem regionale Auswirkungen haben, aber auch umfangreiche Schäden bei zahlreichen Menschen anrichten.

Eines dieser kollektiven Dramen, eine menschliche Krise, die in Vergessenheit zu geraten droht, ist die Vertreibung von mehr als fünf Millionen venezolanischen Flüchtlingen und Migranten, die ihr Land auf der Suche nach einem besseren Leben verlassen haben. 

Wir werden uns hier nicht mit den Ursachen dieser Migration befassen. Die Krise, die Venezuela seit Jahren durchlebt, hat mehrere Dimensionen und erfordert intensiven internen Dialog, unterstützt von der internationalen Gemeinschaft, um gelöst zu werden. Die Europäische Union und Spanien sind bereit, diesen Prozess zu begleiten. Aber jetzt ist es an der Zeit, sich um jene Millionen von Venezolanern zu kümmern, die auf der Flucht vor Hunger, Krankheit, Elend oder Verfolgung ein neues Leben in Kolumbien, Peru, Ecuador, Chile und andere umliegenden Ländern.  

Wir Europäer, die wir seit vielen Jahren unsere eigenen Tragödien mit Flüchtlingen und Migranten erleben, sind verpflichtet, dem Drama, das sich in den Ländern Lateinamerikas und der Karibik abspielt, Aufmerksamkeit zu schenken. Die Gastgeberländer bauen keine Mauern und legen keinen Stacheldraht an. Sie nehmen diese Menschen zu Millionen auf und unterstützen sie, um ihre Integration in die Gastgemeinden erleichtert.

Und doch ist die Herausforderung enorm. Da in den letzten Jahren jeden Tag Tausende von Venezolanern ihr Land verlassen haben, sind die Gesundheits- und Bildungssysteme der Gastgeberlӓnder in den Gebieten, in denen die Vertriebenen konzentriert sind, überfordert. Institutionen und öffentliche Dienste stehen unter Druck, auch im Bereich der Sicherheit, und laufen Gefahr diesem nicht standhalten können.

Die Vereinten Nationen haben über die Flüchtlingsorganisation UNHCR und die Internationale Organisation für Migration (IOM) eine regionale Plattform entwickelt, auf der die Zahl an Ausgewanderten und deren Bedarf an humanitärer Hilfe aufgelistet wird. Aber das ist nur ein Teil der Lösung; es geht vor allem um den unmittelbaren Bedarf an Nahrung, Hygiene oder Unterkunft. Außerdem bedarf es einer mittel- und langfristig Stärkung nationaler Institutionen und öffentlicher Dienste. Die Bereiche Gesundheit, Bildung, Wohnen und Sicherheit müssen deutlich gestärkt werden, da der Großteil der vielen Flüchtlinge und Migranten in den kommenden Jahren nicht in ihr Land zurückkehren wird.

Die bereits tragische Situation hat sich durch COVID-19 weiter verschärft. Das Virus hat eine zusätzliche Gesundheitsbelastung und Sterblichkeit für Flüchtlings- und Migrantengruppen mit sich gebracht, die sich in Grenzgebieten oder Barackensiedlungen um große Städte herum konzentrieren.

An diesem Punkt ist internationale Solidarität dringend vonnöten. Trotz des massiven Ausmaßes der Vertreibung - nach Syrien handelt es sich um die zweitgrößte Migrationskrise der Welt - und des enormen humanitären Bedarfs, haben die Aufnahmeländer bislang wenig Unterstützung von der internationalen Gemeinschaft erhalten. Vor allem Kolumbien, Ecuador und Peru tragen eine große Last, und die finanziellen Hilfen blieben weit hinter den Zahlen zurück, die es für andere Flüchtlingskrisen gegeben hat. Dies ist eine Tatsache, die man sich vor Augen halten muss, und die mit einem dringenden Aufruf zu internationaler Solidarität einhergeht.  

Hinter den Zahlen der Flüchtlinge verbergen sich Geschichten. Geschichten von zerbrochenen Familien, die hinter sich lassen mussten, was sie ein Leben lang aufgebaut haben. Geschichten von Wanderern, die auf der Suche nach einem Neuanfang einen Kontinent zu Fuß durchquert haben. Geschichten von Frauen, die aus der Suche nach einem Ausweg aus der Verzweiflung, Opfer von Gewalt oder sexueller Ausbeutung wurden. In einer beispiellosen Anstrengung versuchen die Gastgeberländer in Lateinamerika die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass diese Geschichten auf der Grundlage von Würde, Respekt und sozialem Wohlergehen weitergehen können. Wir müssen ihnen dabei helfen

Im Oktober 2019 organisierte die Europäische Union eine Geberkonferenz, mit dem Ziel die Krise weltweit sichtbar zu machen, und Regierungen zu ermutigen, die Länder Lateinamerikas und der Karibik zu unterstützen, die der Welt ein solches Beispiel der Solidarität geben. Heute, Monate später, kommen Spanien und die Europäische Union der von der Europäischen Kommission eingegangene Verpflichtung nach und organisieren – mit Unterstützung des UNHCR und der IOM – eine Konferenz, um die Länder zu unterstützen, die Millionen von Venezolanern beherbergen.

Die Coronavirus-Pandemie hat alle Nationen dazu veranlasst, Leben zu retten, mit verfügbaren medizinischen Ressourcen klug umzugehen, und sich auf eine wirtschaftliche Erholung vorzubereiten. Wir sind zuversichtlich, dass die Dynamik der Solidarität, die der Kampf gegen COVID-19 in der Welt geweckt hat, sich auch auf die Hilfe erstrecken wird, die unsere vertriebenen venezolanischen Freunde in der Region benötigen.

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