Wir müssen die europäischen Verteidigungsfähigkeiten stärken und besser zusammenarbeiten
„Unsere militärischen Fähigkeiten entsprechen nicht dem, was zur Abwehr der derzeitigen Bedrohungen nötig wäre. Wir müssen gemeinsam, mehr und besser investieren.“
Russlands rücksichtsloser Angriff auf die Ukraine hat den Krieg zurück nach Europa gebracht. Aufgrund des Umfangs der involvierten militärischen Mittel, der Menschenleben, die der Krieg kostet und der globalen Folgen stellt er eine tektonische Verschiebung der europäischen Sicherheitslandschaft dar. Angesichts dieses Konflikts hat die EU schnell und entschlossen reagiert und der Ukraine politische, finanzielle, humanitäre und militärische Unterstützung angeboten. Jetzt ist klar, dass Europa in Gefahr ist, wovor wir bereits vor Kriegsbeginn gewarnt haben, als wir den Strategischen Kompass vorstellten, der inzwischen vom Rat gebilligt wurde und der einen Plan für einen echten Wandel hin zu einer stärkeren und geeinten Sicherheits- und Verteidigungspolitik beinhaltet.
Das neue Sicherheitsumfeld zeigt, dass die EU mehr Verantwortung für ihre eigene Sicherheit übernehmen muss. Dafür brauchen wir moderne und interoperable europäische Streitkräfte, die sich am oberen Ende des Leistungsspektrums orientieren und auch danach streben, ihre Fähigkeiten und ihre Stärke zu erhöhen. Dass die Bestände im Zuge der militärischen Unterstützung der Ukraine bereits erschöpft sind, spricht Bände. Die Defizite hatten sich aber schon in der Vergangenheit – durch Haushaltskürzungen und unzureichende Investitionen – aufgestapelt.
Das nachstehende Diagramm zeigt, wie die aggregierten Verteidigungsausgaben der EU-Mitgliedstaaten seit Beginn der Eurokrise im Jahr 2008 zurückgegangen sind, 2014 – als Russland die Krim annektierte – ihren Tiefpunkt hatten und erst jetzt wieder das Vorkrisenniveau erreichen (vgl. hier das der gemeinsamen Mitteilung beigefügte Infoblatt mit weiteren Daten).
Dieses Diagramm erfreut sich wachsender Aufmerksamkeit – allein in der letzten Woche wurde häufig darauf verwiesen. Es handelt sich jedoch keinesfalls um eine Neuentdeckung, denn die Zahlen wurden bereits in einem Bericht der EDA vom Dezember 2021 vorgestellt. In diesem Bericht wies die EDA (die durch den Vertrag von Lissabon geschaffen wurde, um die Mitgliedstaaten bei der Verbesserung der militärischen Fähigkeiten und der Festlegung von Prioritäten für deren Weiterentwicklung zu unterstützen) nicht nur auf die große Lücke bei den Verteidigungsausgaben hin, sondern auch auf den anhaltenden Rückgang der gemeinsamen Investitionen der Mitgliedstaaten.
„Die Daten zeigen eine schleichende Unterfinanzierung der europäischen Armeen.“
Die Daten zeigen eine schleichende Unterfinanzierung der europäischen Armeen durch fehlende Investitionen und die durch die Sparpolitik auferlegten Haushaltskürzungen. Ich möchte hier nicht über die Relevanz dieser Kürzungen und die politischen Entscheidungen, die ihnen zugrunde liegen, diskutieren. Es ist jedoch gut, sich dies einmal vor Augen zu führen und bei der künftigen Ausgabenpolitik im Hinterkopf zu behalten, wenn möglicherweise neue Haushaltskürzungen anstehen.
Zudem mangelte es bei diesen Kürzungen an der nötigen Koordinierung: Im Jahr 2020 wurden nur 11 % der Investitionen gemeinschaftlich getätigt, was unter dem von den Mitgliedstaaten im Rahmen der EDA vereinbarten Richtwert von 35 % liegt. Heute besteht die Herausforderung darin, den Prozess zunehmender Investitionen besser zu koordinieren und Überschneidungen und Lücken zu vermeiden.
Klaffende Lücken
Tatsächlich machen sich zahlreiche Defizite bemerkbar: bei den militärischen Fähigkeiten insgesamt, bei den allgemeinen Verteidigungsausgaben, bei Forschung und Entwicklung und beim Vergleich mit der militärischen Entwicklung anderer Länder.
Kennzahlen verdeutlichen einige dieser Lücken:
- Von 1999 bis 2021 nahmen die Gesamtausgaben der EU für Verteidigung lediglich um 20 % zu, während die Steigerung in den Vereinigten Staaten 66 %, in Russland 292 % und in China 592 % betrug. Sicherlich muss man das Ausgangsniveau der militärischen Fähigkeiten berücksichtigen, doch diese Zahlen zeigen sehr unterschiedliche Entwicklungen.
- Zwischen 2009 und 2018 beliefen sich die Kürzungen der Mitgliedstaaten im Bereich der Verteidigung auf ein Gesamtinvestitionsdefizit in Höhe von rund 160 Milliarden Euro.
- Hätten alle Mitgliedstaaten von 2006 bis 2020 2 % ihres BIP für die Verteidigung und 20 % für Investitionen ausgegeben, hätte dies zu zusätzlichen 1,1 Billionen Euro für die Verteidigung geführt, davon rund 270 Milliarden Euro für Investitionen.
- Schätzungen zufolge verursacht die mangelnde Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten im Verteidigungsbereich jährliche Kosten im zweistelligen Milliardenbereich. Trotz einer Erhöhung der europäischen Verteidigungsausgaben im Jahr 2020 wurden nur 11 % der Investitionen gemeinschaftlich getätigt, ein neuer Tiefpunkt, der weit unter dem Richtwert von 35 % liegt.
- Im Jahr 2020 beliefen sich die gemeinsamen Ausgaben der Mitgliedstaaten für Forschung und Technologie (FuT) im Verteidigungsbereich auf nur 2,5 Milliarden Euro, d. h. auf 1,2 % ihrer gesamten Verteidigungsausgaben, und lagen damit unter dem Richtwert von 2 %, der als verbindliche Verpflichtung im Rahmen der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit festgelegt wurde.
All diese Zahlen veranschaulichen Entwicklungen und Mängel, denen wir begegnen müssen, und vor diesem Hintergrund haben die Staats- und Regierungschefs der EU in Versailles eine Analyse der Investitionslücken im Verteidigungsbereich gefordert. Der kürzlich verabschiedete Strategische Kompass enthält bereits einen ehrgeizigen Plan zur Stärkung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU bis 2030, und in diesem Sinne müssen wir voranschreiten.
„All diese Zahlen veranschaulichen Entwicklungen und Mängel, denen wir begegnen müssen.“
In den letzten Wochen haben viele Mitgliedstaaten eine Erhöhung ihrer Verteidigungsausgaben angekündigt. Das ist sehr positiv. Wie ich bereits sagte, ist es jedoch von entscheidender Bedeutung, dass sie nicht nur mehr investieren, sondern auch auf bessere Weise gemeinsam investieren, um eine weitere Fragmentierung zu verhindern. Gestatten Sie mir, diesen Gedanken näher auszuführen, denn wenn jeder Mitgliedstaat seine Verteidigungsausgaben erhöht, indem er seine derzeitigen Ausgaben mit einem Faktor „x“ multipliziert und ohne europäische Koordinierung auf eigene Faust investiert, ist dies wahrscheinlich reine Geldverschwendung und birgt das Risiko, dass sich bestehende Lücken und unnötige Redundanzen vervielfachen.
Aus diesem Grund enthält die Gemeinsame Mitteilung, die wir diese Woche mit meinen Kommissionskollegen Margrethe Vestager und Thierry Breton vorgelegt haben, konkrete Vorschläge zur Förderung der Zusammenarbeit bei Verteidigungsinvestitionen und zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis der europäischen Verteidigung.
Von der Diagnose zur Umsetzung
Die Europäische Verteidigungsagentur hat eine vorläufige Analyse der Investitionslücken im Verteidigungsbereich vorgelegt, die auf den Arbeiten im Rahmen des Plans zur Fähigkeitenentwicklung (Capability Development Plan, CDP) und der Koordinierten Jährlichen Überprüfung der Verteidigung (Coordinated Annual Review on Defence, CARD) aufbaut.
Kurz gesagt, wurden drei wesentliche Aktionsbereiche festgelegt. Die Mitgliedstaaten müssen:
- erstens an der Einsatzbereitschaft der Streitkräfte arbeiten, einschließlich der Aufstockung der Bestände,
- zweitens innerhalb der nächsten fünf Jahre die bestehenden Fähigkeiten quantitativ und qualitativ (Menge und Umfang) erweitern und sich dabei auf die in der Vergangenheit entstandenen Lücken konzentrieren, beispielsweise bei den strategischen Grundfähigkeiten, der Modernisierung der Luftverteidigung, den Cyber- und weltraumgestützten Fähigkeiten, um nur einige zu nennen,
- drittens über einen längeren Zeitraum gemeinsam künftige Schlüsselfähigkeiten entwickeln, wie beispielsweise Kampfpanzer, fortgeschrittene Fähigkeiten im Bereich „Anti Access/Area Denial“ (A2/AD) oder Weltraumlageerfassung.
„Wie immer brauchen wir politischen Willen und Führung.“
Wir werden eine gemeinsame Taskforce einrichten, um kurzfristigen Beschaffungsbedarf aufzufangen und die Mitgliedstaaten zu einer gemeinsamen Beschaffung zu ermutigen. Auf der Grundlage ihres Fachwissens und ihrer Erfahrung in diesem Bereich kann die EDA im Rahmen dieser Taskforce diese kurzfristigen gemeinsamen Anschaffungen bereits erleichtern. Die Kommission wird auch ein Instrument zur Stärkung der industriellen Verteidigungsfähigkeiten in Europa durch gemeinsame Beschaffung einführen und eine Verordnung über ein Programm für europäische Verteidigungsinvestitionen vorschlagen.
Darüber hinaus werden wir erwägen, die Haushaltsmittel des Europäischen Verteidigungsfonds und die militärische Mobilität mithilfe der Fazilität „Connecting Europe“ zu stärken. Schließlich schlagen wir vor, dass die Europäische Investitionsbank (EIB) in Zusammenarbeit mit der EDA prüft, wie sie die europäische Verteidigungsindustrie bei der Entwicklung kritischer Technologien und beim Ausbau industrieller Kapazitäten durch gemeinsame Beschaffung unterstützen kann.
Wie immer brauchen wir politischen Willen und Führung, und die steigenden Verteidigungsausgaben bieten uns eine einmalige Gelegenheit, einige der seit Langem bestehenden Probleme zu lösen, die die Verteidigungsanstrengungen der EU behindert haben.
Jetzt ist der Moment gekommen, um die europäische Verteidigung voranzutreiben. Wir müssen die industrielle Basis der europäischen Verteidigung stärken und die erforderlichen militärischen Fähigkeiten bereitstellen. Ferner müssen wir in der Lage sein, unsere militärischen Fähigkeiten zu steigern, um uns selbst zu verteidigen, die NATO zu stärken und unsere Partner im Bedarfsfall besser zu unterstützen.
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