Über die Entscheidungen und die Verantwortung der Volksrepublik China

„Wir verurteilen die russische Aggression gegen die Ukraine und unterstützen ihre Souveränität und Demokratie. Nicht, weil wir ‚den USA blind folgen‘, wie China gelegentlich behauptet, sondern weil dies wirklich unser Standpunkt ist. Das war eine wichtige Botschaft für die chinesische Führung.“ Josep Borrell
Die Beziehungen zwischen der EU und China durchlaufen seit einigen Jahren eine schwierige Phase, in der es zu Auseinandersetzungen über Menschenrechte (Xinjiang, Hongkong) gekommen ist: das regionale Verhalten Chinas (Ost- und Südchinesisches Meer, indische Grenze, Formosastraße), die anhaltenden Probleme, denen europäische Unternehmen beim Zugang zum chinesischen Markt gegenüberstehen, die eskalierende Anwendung von Sanktionen gegen Beamte und Organe der EU, die Ausweitung von Desinformationsmaßnahmen und der offene Versuch wirtschaftlichen Zwangs gegenüber Litauen und dem EU-Binnenmarkt im weiteren Sinne. All dies hat zu einem Gefühl des Stillstands und der Divergenz geführt.
In der Praxis hat Peking eine Haltung prorussischer Neutralität eingenommen. China billigt das Verhalten Russlands nicht – es hat sich bei der Abstimmung in der UN-Generalversammlung der Stimme enthalten –, aber es unterstützt die Rechtfertigungen Russlands für den Krieg, d. h. die Behauptung, dass die Ursachen im „Denken des Kalten Krieges“ und insbesondere in der NATO-Erweiterung liegen.
Dann kam der brutale Einmarsch Russlands in die Ukraine. Für die Europäer ist dies ein eindeutiger Fall von Aggression: Russland hat die Souveränität und territoriale Integrität seines kleineren Nachbarn in unentschuldbarer Weise verletzt. Das sind Grundsätze, die in der chinesischen Diplomatie angeblich unantastbar sind. In der Praxis hat Peking jedoch eine Haltung prorussischer Neutralität eingenommen. China billigt das Verhalten Russlands nicht – es hat sich bei der Abstimmung in der UN-Generalversammlung der Stimme enthalten –, aber es unterstützt die Rechtfertigungen Russlands für den Krieg, d. h. die Behauptung, dass die Ursachen im „Denken des Kalten Krieges“ und insbesondere in der NATO-Erweiterung liegen. China verwendet den Begriff Krieg nicht, sondern zieht Euphemismen wie Problem, Krise oder Konflikt vor. Es lehnt die Anwendung von Sanktionen ab. Und, anstatt die russische Aggression klar zu benennen, zieht es gleichmäßige Schuldzuweisungen vor und fordert, dass „alle Seiten“ dem Blutvergießen ein Ende setzen sollen.
Russland und China haben deutlich gemacht, dass sie der Meinung sind, dass Großmächte ein Recht auf eine Einflusszone in ihrer jeweiligen Nachbarschaft haben.
Russland und China haben durch ihre Erklärungen und Handlungen deutlich gemacht, dass sie der Meinung sind, dass Großmächte ein Recht auf eine Einflusszone in ihrer jeweiligen Nachbarschaft haben. Wir vertreten hingegen die Auffassung, dass die UN-Charta und die Schlussakte von Helsinki das Recht der Länder auf eigene, souveräne Entscheidungen festschreiben. Die gemeinsame Erklärung Russlands und Chinas vom 4. Februar ist im Kern ein revisionistisches Manifest, wie ich auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 20. Februar 2022 sagte.
Wir sehen den Krieg gegen die Ukraine als einen Moment der Wahrheit, in dem die Länder Farbe bekennen müssen, aber China glaubt, dass es schicksalhafte Entscheidungen vermeiden kann. Beim gegenwärtigen Stand der Dinge ist China der Meinung, der Westen werde sich auf die Ukraine konzentrieren und Russland werde geschwächt, wodurch China mit seinem Angebot an billigem Öl und Gas noch stärker die Rolle des Hauptpartners einnehmen kann, wenn Europa seine Energieeinfuhren aus Russland reduziert.
Ein schwieriges, aber notwendiges Gipfeltreffen
Vor diesem schwierigen Hintergrund fand das jüngste Gipfeltreffen zwischen der EU und China statt. Die Tatsache, dass es weder eine gemeinsame Erklärung noch eine Liste von „Ergebnissen“ gab, war ein deutlicher Hinweis darauf, dass dies kein „business as usual“ war.
Wir verurteilen die russische Aggression gegen die Ukraine und unterstützen die Souveränität und Demokratie dieses Landes – nicht, weil wir „den USA blind folgen“, wie China gelegentlich behauptet, sondern weil dies wirklich unser Standpunkt ist.
Wie ich bereits vor dem Europäischen Parlament sagte, wollte China taktisch vorgehen und einzelne Themen ausgrenzen: Wir sollten unsere altbekannten Differenzen über die Menschenrechte, die Ukraine und andere Themen beiseitelassen und uns stattdessen „auf das Positive konzentrieren“. Die EU-Seite machte deutlich, dass dies nicht möglich ist: Einige Werte sind universell und für unsere Einstellung zur Welt von zentraler Bedeutung. Das gilt auch für die Ukraine. Es handelt sich nicht um einen lokalen Streit zwischen zwei Ländern, die gleichermaßen schuld sind. Und es ist auch keine Rückkehr zum Kalten Krieg mit zwei gegensätzlichen ideologischen und wirtschaftlichen Blöcken. Nein, dies ist ein entscheidender Moment dafür, ob wir in einer Welt leben, die von Regeln oder von Gewalt regiert wird. Die zentrale Frage ist, ob wir die unrechtmäßige Anwendung von Gewalt als normal betrachten oder nicht. Ist es in Ordnung, dass man seiner Armee einfach befehlen kann, in einen Nachbarstaat einzumarschieren und zu versuchen, sich das zu nehmen, was man für sein Eigentum hält? Wir wollen nicht in einer Welt leben, in der die Anwendung von Gewalt genauso liberalisiert ist wie die Wirtschaft, wie es der libanesische Wissenschaftler und Diplomat Ghassam Salamé in der Tageszeitung „Le Monde“ formulierte.
Wir verurteilen die russische Aggression gegen die Ukraine und unterstützen die Souveränität und Demokratie dieses Landes – nicht, weil wir „den USA blind folgen“, wie China gelegentlich behauptet, sondern weil dies wirklich unser Standpunkt ist. Das war eine wichtige Botschaft für die chinesische Führung.
Die Diskussionen während des Gipfeltreffens verliefen offen, aber auch ruhig, was vielleicht zeigt, dass keine der beiden Seiten überzogene Erwartungen hatte. Die EU-Seite forderte China auf, die Souveränität der Ukraine und die Notwendigkeit eines Waffenstillstands nicht nur abstrakt zu unterstützen, sondern auch seinen Einfluss auf Russland zu nutzen, um einen Waffenstillstand herbeizuführen, und jegliche aktive militärische Unterstützung Russlands auszuschließen. Die chinesische Seite hielt an allgemeinen Erklärungen fest, in denen sie Frieden und Deeskalation wünschte, ohne jedoch konkrete Zusagen für die Herbeiführung eines Waffenstillstands zu machen.
Wichtig ist auch, dass China seine Ablehnung des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen in diesem Konflikt bekräftigt.
Bei alledem gibt es ein großes Paradoxon: Unsere bilateralen Wirtschaftsbeziehungen waren noch nie so eng wie heute – der Handel zwischen der EU und China beläuft sich auf zwei Milliarden Euro pro Tag, während der Handel zwischen China und Russland nur 300 Millionen Euro pro Tag beträgt –, unsere politischen Ansichten gehen jedoch immer weiter auseinander. Das beweist letztlich, dass politische und ideologische Faktoren wirtschaftliche Faktoren überschatten.
Wie geht es weiter?
Eine der Schlussfolgerungen dieses Gipfeltreffens muss lauten, dass China sich vorerst nicht aktiv für ein Ende des russischen Krieges gegen die Ukraine einsetzen wird. Das Beste, was wir realistischerweise anstreben können, ist, dass China nicht zu einer aktiveren prorussischen Haltung übergeht. Seit dem Gipfeltreffen liegen jedoch Beweise für weitere russische Gräueltaten, auch in Butscha, vor, die eine politische Lösung erschweren werden. China sollte in jede von der UNO eingesetzte Untersuchungskommission einbezogen werden und wird sich in der einen oder anderen Weise äußern müssen. Wir müssen auch abwarten, ob Präsident Xi endlich mit Präsident Selenskyj sprechen wird, wozu die EU-Seite während des Gipfeltreffens ermutigt hat.
In der Zwischenzeit müssen wir als EU weiterhin alles in unserer Macht Stehende tun, um Druck auf Russland auszuüben (wir haben gerade eine fünfte Runde harter Sanktionen vorgeschlagen), unsere Unterstützung für die Ukraine auszuweiten und die umfassenderen globalen Folgen des Krieges zu bewältigen, einschließlich der zunehmenden Gefahr einer Ernährungsunsicherheit aufgrund steigender Energie- und Rohstoffpreise. Wir arbeiten mit Ländern in Afrika und Asien zusammen, um deutlich zu machen, dass es sich bei diesem Konflikt nicht um einen Konflikt zwischen dem Osten und dem Westen handelt, sondern um einen Konflikt, der den Grundsatz der nationalen Souveränität und territorialen Integrität gefährdet.
Der Zweck der Außenpolitik besteht darin, die Entscheidungen der internationalen Akteure zu beeinflussen. Dies gilt auch für China. Der beste Weg, dies zu tun, ist für die EU, realistisch, entschlossen und geschlossen aufzutreten.
In Bezug auf die Beziehungen zwischen der EU und China ist es für uns wahrscheinlich das Wichtigste, weiterhin unsere „Hausaufgaben“ zu machen und die interne Widerstandsfähigkeit der EU zu stärken. In den letzten Jahren haben wir bedeutende Schritte auf der defensiven Seite unternommen (Überwachung der Investitionen, 5G-Instrumentarium, Antisubventionsverfahren, Instrument für das Beschaffungswesen und in Zukunft durch die Annahme des Instruments zur Bekämpfung von Zwangsmaßnahmen noch weitere). Wir haben zudem unsere Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Partnern verstärkt, um die Herausforderungen zu bewältigen, vor die China uns stellt, aber auch, um die sich bietenden Chancen zu nutzen.
Wir sollten immer die Tür offen lassen, um mit China ins Gespräch zu kommen. Der Gipfel war ein wichtiger Kommunikationskanal, um Botschaften an die höchste Ebene in Peking zu übermitteln. Trotz aller bekannten Schwierigkeiten ist es wichtig zu erkennen, dass wir ein gemeinsames Interesse daran haben, diese Beziehung auf verantwortungsvolle Weise zu gestalten. Der Klimawandel, die biologische Vielfalt, aber auch die zunehmende Bedrohung durch die Ernährungsunsicherheit in Afrika oder regionale Krisen wie in Afghanistan: All das sind Themen, bei denen wir versuchen müssen, mit China zusammenzuarbeiten.
Der Zweck der Außenpolitik besteht darin, die Entscheidungen der internationalen Akteure zu beeinflussen. Dies gilt auch für China. Der beste Weg, dies zu tun, ist für die EU, realistisch, entschlossen und geschlossen aufzutreten. Diplomatie bedeutet, mit allen zu sprechen, auch mit denen, mit denen wir heftige Meinungsverschiedenheiten haben. Ich denke, dass die EU in ihrem Dialog mit China wirklich die Sprache der Macht gesprochen hat.
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