Ein Neuanfang für den Mittelmeerraum

„Die Herausforderungen, mit denen der südliche Mittelmeerraum konfrontiert ist, wurden durch die COVID‑19-Pandemie noch weiter verschärft. Ihre gemeinsame Bewältigung ist von grundlegender Bedeutung für unsere Außenpolitik.“
Als ich dem Europäischen Rat die Mitteilung über die Partnerschaft mit den Nachbarländern des Mittelmeerraums vorlegte, habe ich mich an die Erklärung von Barcelona erinnert. Im Jahr 1995 hatten die Europäische Union und ihre Partner in der Region in Barcelona ihren gemeinsamen Willen bekräftigt, den Mittelmeerraum zu einem Gebiet des Dialogs und der Zusammenarbeit zu machen, in dem Frieden, Stabilität und Wohlstand gewährleistet sind. Ich war damals als Minister der spanischen Regierung dabei, und ich erinnere mich an die Hoffnung, die diese Erklärung geweckt hatte.
Arabischer Frühling: die enttäuschte Hoffnung
Vor nunmehr zehn Jahren hat der Arabische Frühling noch viel größere Hoffnungen geweckt. Es hatte in gewisser Weise den Anschein, als könnten sich die Ereignisse des Jahres 1989 im südlichen Mittelmeerraum wiederholen. Damals hatte man einen neuen Impuls für Freiheit und Demokratie in dieser Region für möglich gehalten. Wir wissen allerdings, was danach geschah: der schreckliche Krieg in Syrien, der immer noch andauert, der Zusammenbruch Libyens und seine verheerenden Auswirkungen in der Sahel-Region, die Ausbreitung von Terrorismus, die Flüchtlingskrise...
„Die jungen Menschen verlassen ihre Länder aufgrund von Kriegen und des Mangels an Freiheiten, Arbeitsplätzen und Zukunftsperspektiven.“
Mittlerweile ist Verzweiflung an die Stelle von Optimismus getreten. Insbesondere die jungen Menschen verlassen ihre Länder aufgrund von Kriegen und des Mangels an Freiheiten, Arbeitsplätzen und Zukunftsperspektiven. In vielerlei Hinsicht erscheint die Lage im südlichen Mittelmeerraum heute fast schlimmer als 1995 oder 2011.
Unsere Nachbarn befinden sich in erster Linie in einer wirtschaftlich schwierigen Lage. Im Durchschnitt sind wir Europäer achtmal so reich wie unsere südlichen Nachbarn, und die Kluft zwischen beiden Seiten des Mittelmeers wächst tendenziell. Der südliche Mittelmeerraum gehört zu den wirtschaftlich am wenigsten integrierten Gebieten der Welt: Der Handel innerhalb der Region macht weniger als 6 % des internationalen Handels dieser Länder aus. Unsere Nachbarn im südlichen Mittelmeerraum sind auch massiv vom Klimawandel betroffen. Diese Region erwärmt sich schneller als der Rest der Welt, die Wüstenbildung schreitet dort fort, und der Wettbewerb um bereits knappe Wasserressourcen nimmt zu.
Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der demografischen Dynamik
Die Schwierigkeiten unserer südlichen Nachbarn hängen jedoch auch zu einem großen Teil mit ihrer demografischen Dynamik zusammen: Die Bevölkerung der Region ist nur halb so groß wie die der EU, sie nimmt allerdings viel schneller zu. Das Bevölkerungswachstum in den fünf Maghreb-Ländern zwischen 1990 und 2019 betrug 57 %, gegenüber nur 6 % in der EU. Ein Viertel der Bevölkerung unserer südlichen Nachbarn ist jünger als 25 Jahre, im Vergleich zu 15 % in Europa. Ihre Volkswirtschaften sind nicht in der Lage, diesen immer besser ausgebildeten jungen Menschen genügend Arbeitsplätze zu bieten. Daher kommt es zu wachsendem Unmut, der die Auswanderung beflügelt.
„Die Volkswirtschaften unserer südlichen Nachbarn sind nicht in der Lage, den immer besser ausgebildeten jungen Menschen genügend Arbeitsplätze zu bieten. Daher kommt es zu wachsendem Unmut, der die Auswanderung beflügelt.“
In einigen Ländern der Region gibt es zweifelsohne schwerwiegende ordnungspolitische Probleme. Jedoch müssen wir uns auch die Frage stellen, warum es uns nicht gelungen ist, unsere Nachbarn besser dabei zu unterstützen, einen ähnlichen Wandel wie in Osteuropa nach dem Fall des Kommunismus im Jahr 1989 zu vollziehen.
Unter diesen bereits ungünstigen Rahmenbedingungen hat die COVID‑19-Pandemie die Region hart getroffen. Der Tourismus, der eine wichtige Quelle für Beschäftigung und Einkommen darstellt, ist fast zum Erliegen gekommen. Schätzungen der IAO zufolge haben diese Länder im 2. Quartal 2020 rund 17 Millionen Arbeitsplätze verloren, und die Arbeitslosigkeit dürfte sich aufgrund der Pandemie mehr als verdoppelt haben.
Die zahlreichen Herausforderungen, vor denen die Region nach wie vor steht, erfordern in jedem Fall mehr denn je eine gemeinsame Antwort, denn unsere Schicksale sind untrennbar miteinander verbunden. Für die EU-Anrainerstaaten des Mittelmeers – etwa das Land, das ich am besten kenne – ist dies seit langem offensichtlich, jedoch haben die Ereignisse der letzten Jahre diese Tatsache, wie ich glaube, für alle Europäer deutlich gemacht.
„Die zahlreichen Herausforderungen, vor denen der südliche Mittelmeerraum nach wie vor steht, erfordern in jedem Fall mehr denn je eine gemeinsame Antwort, denn unsere Schicksale sind untrennbar miteinander verbunden.“
Daher müssen wir jetzt festlegen, was wir tun wollen, um diese verpassten Gelegenheiten hinter uns zu lassen. Die gemeinsame Mitteilung, die ich Anfang Februar mit meinem Kollegen Várhelyi, Kommissar für Erweiterung und Europäische Nachbarschaftspolitik, vorgestellt habe, liefert Antworten dazu.
Zunächst müssen wir enger zusammenarbeiten, um unsere gemeinsamen Probleme zu lösen: COVID‑19, Konflikte, Migration, Klimawandel, Terrorismus... In all diesen Bereichen können Fortschritte nur durch eine verstärkte regionale Integration mittels einer verstärkten grenzüberschreitenden Zusammenarbeit erzielt werden.
Förderung der CO2-Neutralität und der erneuerbaren Energien
Wir werden unseren Partnern insbesondere Initiativen zur Förderung der CO2-Neutralität und der erneuerbaren Energien vorschlagen. Die Region verfügt in der Tat über ein enormes Potenzial, das vor allem im Bereich der Wind- und der Sonnenenergie bei weitem noch nicht ausgeschöpft ist. Wir werden uns auch darum bemühen, die regionale Integration der Stromnetze zu fördern. Wir werden unsere Partner ferner dabei unterstützen, ihre Klimaresilienz zu stärken, indem wir unsere Maßnahmen im Bereich der Anpassung an den Klimawandel verstärken, insbesondere in den am stärksten gefährdeten Sektoren wie Landwirtschaft und Wasserversorgung.
Auf der Grundlage aller der EU zur Verfügung stehenden Instrumente schlagen wir einen Investitionsplan vor, um die strukturellen Ungleichgewichte in der Region zu beheben, insbesondere in Partnerschaft mit der Europäischen Investitionsbank (EIB) und der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE). Für den Zeitraum 2021-2027 beabsichtigt die Kommission, 7 Mrd. EUR aus dem EU-Haushalt für die Unterstützung der Volkswirtschaften im südlichen Mittelmeerraum bereitzustellen. Mit dieser Unterstützung sollen private und öffentliche Investitionen in Höhe von 30 Mrd. EUR in der Region mobilisiert werden. In der Mitteilung wird vorgeschlagen, 12 Vorzeigeprojekte in Angriff zu nehmen, wobei der Schwerpunkt insbesondere auf grünen Investitionen liegt.
Wir werden jedoch mehr tun müssen. Die Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und unseren südlichen Nachbarn muss eine entscheidende Rolle dabei spielen, die Wiederaufnahme der Wirtschaftstätigkeit auf der anderen Seite des Mittelmeers zu unterstützen. Unsere Partner kritisieren, dass ihre Handelsungleichgewichte mit der EU in den letzten Jahren zugenommen haben, und wir müssen in diesem Bereich Anstrengungen unternehmen. In diesem Zusammenhang bietet unser Wille, die strategische Autonomie der Union durch eine Verringerung unserer Abhängigkeit von weit entfernten Ländern zu stärken, eine Chance, unsere Wirtschaftsbeziehungen zu unseren Nachbarn im südlichen Mittelmeerraum auszubauen.
„Unser Wille, die strategische Autonomie der Union durch eine Verringerung unserer Abhängigkeit von weit entfernten Ländern zu stärken, bietet eine Chance, unsere Wirtschaftsbeziehungen zu unseren Nachbarn im südlichen Mittelmeerraum auszubauen.“
Um dies zu erreichen, werden jedoch auch die unerlässlichen Reformen im Bereich der Achtung der Rechtsstaatlichkeit oder der verantwortungsvollen Staatsführung auf den Weg gebracht werden müssen. Sie sind dringend erforderlich, sowohl um das Vertrauen der Bürger in die Zukunft ihrer Gesellschaften wiederherzustellen als auch für die wirtschaftliche Entwicklung der Region. Wir werden in erster Linie die Regierungen unterstützen müssen, die bereit sind, in diesen Bereichen Fortschritte zu erzielen.
Eine große geopolitische Herausforderung
Die Entwicklung der Beziehungen zu unseren Nachbarn im südlichen Mittelmeerraum ist eine große geopolitische Herausforderung. Um mehr Wirkung zu erzielen, werden wir auf höchster Ebene und gemeinsam handeln müssen. Das gemeinsame Engagement aller Mitgliedstaaten in dieser Partnerschaft ist sowohl für die Sicherheit als auch für die wirtschaftliche Zusammenarbeit von entscheidender Bedeutung. Ihre diplomatischen Netze, die langjährige Zusammenarbeit zwischen ihnen und den Ländern des südlichen Mittelmeerraums sowie ihre Fähigkeit, private Akteure aus den EU-Ländern zu mobilisieren, sind in der Tat unerlässlich, um die ehrgeizigen Ziele, die wir uns setzen, zu erreichen.
„Das gemeinsame Engagement aller Mitgliedstaaten in der Partnerschaft mit unseren südlichen Nachbarn ist sowohl für die Sicherheit als auch für die wirtschaftliche Zusammenarbeit von entscheidender Bedeutung.“
Um dieses kollektive Engagement zu beweisen, müssen wir ein starkes politisches Signal senden. Deshalb habe ich den Staats- und Regierungschefs vorgeschlagen, regelmäßig Treffen auf höchster Ebene mit allen Staaten der Region abzuhalten, wie wir es bereits im Rahmen unserer Östlichen Partnerschaft tun.
Angesichts des Ausmaßes der Herausforderungen, mit denen der Mittelmeerraum konfrontiert ist, werden wir mit aller Entschlossenheit handeln müssen, um diese Herausforderungen in den kommenden Jahren mit Erfolg gemeinsam zu meistern. Insbesondere werden wir im Geiste des „Team Europa“ zusammenarbeiten müssen und die Maßnahmen der Mitgliedstaaten und der Kommission eng koordinieren. Die Staats- und Regierungschefs haben uns am vergangenen 26. Februar ausdrücklich dazu ermutigt.
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