EU-Pakistan: Warum unsere Beziehungen so wichtig sind

„Angesichts der gemeinsamen Bedrohung durch den Terrorismus, der sich verschärfenden COVID-19-Krise und der zunehmenden internationalen Spannungen ist es wichtiger denn je, unsere Beziehungen zu Pakistan zu vertiefen. Und das werden wir tun.“
Am vergangenen Dienstag sprach ich per Videokonferenz mit meinem pakistanischen Amtskollegen, Außenminister Makhdoom Shah Mahmood Qureshi. Er vertritt ein Land mit 220 Millionen Menschen und einer der größten mehrheitlich muslimischen Bevölkerungen der Welt. Pakistan besitzt Kernwaffen und spielt in der kritischen Region, zu der auch China, Indien, Iran und Afghanistan gehören, eine zentrale Rolle. Angesichts der derzeitigen Umstände sind die Beziehungen zwischen der EU und Pakistan von großer Bedeutung für uns.
Ein sehr junges Land
Pakistan ist auch ein äußerst junges Land: mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als 30 Jahre. Das Land steht jedoch vor großen Schwierigkeiten, ausreichende Arbeitsplätze für diese große Anzahl junger Menschen zu schaffen. Diese Schwierigkeiten wurden durch die COVID-19-Pandemie und ihre Folgen noch verschärft. Diese seit langem bestehenden Probleme tragen zu anhaltender sozialer und politischer Instabilität sowie starken religiösen Spannungen bei, wenngleich es Pakistan gelungen ist, den Militärdiktaturen, die das Land jahrzehntelang regierten, ein Ende zu setzen.
„Ich brachte meine tiefe Besorgnis über die Desinformation zum Ausdruck, die wir in vielen Teilen der Welt, darunter Pakistan, in Bezug auf die Situation des Islam und der Muslime in Europa beobachtet haben.“
Wir haben selbstverständlich über den internationalen Terrorismus und die jüngsten Anschläge in Europa gesprochen. Ich brachte meine tiefe Besorgnis über die Desinformation zum Ausdruck, die wir in vielen Teilen der Welt, darunter Pakistan, in Bezug auf die Situation des Islam und der Muslime in Europa beobachtet haben. Ich äußerte auch meine Besorgnis über die Anwendung der Todesstrafe in Pakistan und den Missbrauch des Blasphemiegesetzes und begrüßte zugleich die bevorstehende Verabschiedung eines Gesetzes gegen Folter. Mein pakistanischer Amtskollege hingegen betonte seine Besorgnis über ein – in seinen Worten – Wiederaufleben „islamfeindlicher Handlungen“ in Europa, die seiner Meinung nach Musliminnen und Muslime in aller Welt und insbesondere in Pakistan zutiefst verletzt haben.
„Das Modell der EU, das auf der Glaubens- und Meinungsfreiheit beruht, ist für Gesellschaften mit anderen Werten und Systemen oft schwer nachvollziehbar.“
Wir haben ein offenes Gespräch über diese sensiblen Themen geführt. Die EU basiert auf dem Modell einer säkularen Gesellschaft, in der die Rechte und Freiheiten des Einzelnen von zentraler Bedeutung sind und in der die staatlichen Behörden die Glaubens- und Meinungsfreiheit aller Menschen achten, auch in Religionsfragen. Dieses Modell ist für Gesellschaften mit anderen Werten sowie gesellschaftlichen und politischen Systemen oft schwer nachvollziehbar.
Während unseres Dialogs über diese schwierigen Themen kamen wir beide überein, jede Form von Gewalt bis zur Tötung unschuldiger Menschen zu verurteilen und bekräftigten unsere gemeinsame Entschlossenheit, die Menschenrechte und Grundfreiheiten zu verteidigen und zu stärken sowie Toleranz und Koexistenz zwischen verschiedenen Religionen zu fördern.
„Wir kamen überein, jede Form von Gewalt sowie die Tötung unschuldiger Menschen zu verurteilen und bekräftigten unsere gemeinsame Entschlossenheit, die Menschenrechte zu verteidigen und Toleranz zwischen den Religionen zu fördern.“
Wir setzten unser Gespräch in diesem Sinne fort und erörterten Fragen der Terrorismusbekämpfung, insbesondere die vorgesehenen Maßnahmen der Arbeitsgruppe „Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung“ (FATF) (externer Link). Diese zwischenstaatliche Organisation, der 200 Länder angehören, hat internationale Standards für die Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung festgelegt. Wir stellten fest, dass erhebliche Fortschritte bei der Umsetzung von 21 der 27 Punkte des pakistanischen Aktionsplans erzielt worden sind. Im Rahmen der letzten Überprüfung der FATF hat sich die EU für positive Formulierungen in der Erklärung zu Pakistan ausgesprochen. Ich habe unsere Gesprächspartner gebeten, die Umsetzung rasch abzuschließen, und technische Hilfe der EU angeboten. Darüber hinaus werden wir 2021 das erste Treffen im Rahmen des Sicherheitsdialogs EU-Pakistan abhalten, der in unserem gemeinsamen strategischen Maßnahmenplan 2019 vorgesehen ist.
60 % der Waren, die unter das Allgemeine Präferenzsystem der EU (APS+) fallen, stammen aus Pakistan.
Die Wirtschaftsbeziehungen waren ebenfalls ein wichtiges Thema unseres Dialogs, zumal die Folgen der COVID-19-Krise die Region stark beeinträchtigen. Als Reaktion auf die COVID-19-Krise haben wir zur Unterstützung Pakistans 150 Millionen € bereitgestellt. Zudem ist die EU der zweitgrößte Handelspartner des Landes, wobei 35% der pakistanischen Exporte nach Europa gehen. Pakistan profitiert vom Allgemeinen Präferenzsystem der Europäischen Union (APS+). Mit dem APS+ werden Einfuhrzölle auf Waren aus schwachen Entwicklungsländern abgeschafft, um ihnen zu helfen, Armut zu lindern und Arbeitsplätze auf der Grundlage internationaler Werte und Grundsätze zu schaffen. Um beteiligt zu werden, müssen sie 27 internationale Übereinkommen in den Bereichen Menschenrechte, Arbeitnehmerrechte, Umweltschutz und verantwortungsvolle Staatsführung umsetzen. Derzeit stammen 60% der Erzeugnisse, die im Rahmen dieser Zollregelung in die EU importiert werden, aus Pakistan. Wir sondieren Möglichkeiten, diese Regelung in vollem Umfang zu nutzen, um die Auswirkungen der COVID-19-Krise abzufedern.
„Die EU fordert die vollständige Umsetzung der Initiative zur Aussetzung des Schuldendienstes durch alle Gläubiger, zu denen auch China gehört, und ermutigt die G20, sich weiter mit der Schuldenfrage zu befassen.“
Pakistan sollte auch die Vorteile der Initiative zur Aussetzung des Schuldendienstes, die von der G20 als Reaktion auf COVID-19 beschlossen wurde, umfassend nutzen können. Nach Angaben der Weltbank ist Pakistan eines der Länder der Welt mit den höchsten Schuldenquoten in Bezug auf den Außenhandel: im Jahr 2018 machte der Schuldenstand Pakistans 211 % seines Handels aus. Ich versicherte meinem Gesprächspartner, dass die EU die vollständige und transparente Umsetzung der Aussetzung des Schuldendienstes durch alle offiziellen Gläubiger fordert, zu denen auch China gehört, ein wichtiger externer Kreditgeber Pakistans. Die EU ermutigt auch die internationale Gemeinschaft, in dieser Hinsicht weitere Schritte zu unternehmen.
Wir müssen in Fragen des Klimaschutzes zusammenarbeiten
Pakistan gehört auch zu den am stärksten vom Klimawandel betroffenen Ländern der Welt. Der Indus ist der wichtigste Wasserweg für die Landwirtschaft und die Wirtschaft des Landes, kann jedoch aufgrund seiner Quellen im Himalaya-Dreieck zwischen Indien, China und Pakistan rasch zu Spannungen in der regionalen Klima-Geopolitik führen. Wir hoffen, unsere Zusammenarbeit mit Pakistan in energie- und klimabezogenen Fragen auszubauen, und vertrauen darauf, dass Pakistan im nächsten Jahr dazu beiträgt, die von den verschiedenen Ländern im Rahmen des Übereinkommens von Paris eingegangenen Verpflichtungen zu stärken.
Vor Afghanistan liegt ein schwieriger Weg
Schließlich haben wir selbstverständlich ausführlich die Sicherheitslage in der Region und insbesondere in Afghanistan erörtert. Wir verständigten uns darauf, einen Friedensprozess unter afghanischer Führung und Verantwortung entschieden zu unterstützen, und begrüßten die in den letzten beiden Jahren erzielten Fortschritte, insbesondere die Unterzeichnung eines Abkommens zwischen den USA und den Taliban im Februar 2020. Wir sind uns der schwierigen Aufgabe, die vor uns liegt, und der Hindernisse, die es noch zu überwinden gilt, durchaus bewusst, wie der jüngste tödliche Angriff auf die Universität Kabul verdeutlicht hat.
Außenminister Qureshi äußerte sich besorgt über die Menschenrechtsverletzungen Indiens in der Region Jammu und Kaschmir und die Versuche des Landes, einen demografischen Wandel in dem umstrittenen Gebiets herbeizuführen. Die EU verfolgt die Lage in dieser Region aufmerksam. Ich betonte, dass Zurückhaltung, eine Deeskalation der Spannungen sowie die Beilegung des Konflikts durch Dialog und diplomatisches Engagement erforderlich sind.
Angesichts der gemeinsamen Bedrohung durch den Terrorismus, der sich verschärfenden COVID-19-Krise in Europa und weltweit und der zunehmenden systemischen Rivalität zwischen China und den Vereinigten Staaten ist es für die EU wichtiger denn je, ihre Beziehungen zu einem Land wie Pakistan zu vertiefen – ein Land, das für die regionale Stabilität in Südasien von entscheidender Bedeutung ist. Und das werden wir tun.
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