Ruanda: Kwibuka und die Lehren aus einer Tragödie

„Vergeben ist eine Sache, vergessen eine andere.“
Rwanda ist ein kleines, küstenfernes Land im Großen Afrikanischen Grabenbruch, wo die afrikanische Region der Großen Seen auf Ostafrika trifft. Es ist eines der am dichtesten besiedelten Länder der Erde. Was dort vor 27 Jahren geschah, gehört zu den schrecklichsten Gräueltaten des letzten Jahrhunderts: Im Jahr 1994 wurde rund eine Million Menschen in weniger als 100 Tagen ermordet. Jeder achte Einwohner des Landes wurde während des Völkermordes an den Tutsi umgebracht. Die internationale Gemeinschaft wollte sie nicht schützen, obwohl sie es gekonnt hätte.
Die Haftstrafen einiger Täter des Völkermords enden nun, und rund 30 000 von ihnen werden aus dem Gefängnis entlassen. Stellen Sie sich vor, welche Auswirkungen dies auf jede Gesellschaft der Welt haben könnte. Stellen Sie sich vor, wie sich dies auf Ruanda und seine Bevölkerung auswirken kann. Man kann Ruanda für seine Aussöhnungsbemühungen, die eine friedliches Zusammenleben ermöglichen und verhindern, dass die gesellschaftlichen Wunden wieder aufreißen, nur beglückwünschen.
„Die Haftstrafen einiger Täter des Völkermords enden nun, und rund 30 000 von ihnen werden aus dem Gefängnis entlassen.“
Während meines Aufenthalts in Ruanda habe ich den Bugesera-Distrikt bereist, rund 45 km von Kigali entfernt. Ich habe ein von der EU finanziertes Projekt besucht, dessen Ziel darin besteht, Traumata zu heilen, zu versöhnen und Häftlinge zu integrieren, zu verhindern, dass das Trauma an künftige Generationen weitergegeben wird, und der Gefahr des Wiederaufflammen des Konflikts vorzubeugen. Das Pilotprojekt „Interpeace“ konzentriert sich auf den Bugesera-Distrikt, der 1994 mit am schlimmsten von den Gräueltaten betroffen war. Die Lehren aus diesem Projekt werden im ganzen Land bekanntgemacht und könnten auch von anderen Ländern übernommen werden.
Ich habe an einer Gedenkstunde teilgenommen, bei der eine Frau schilderte, wie sie vergewaltigt wurde und ihre Kinder weggenommen wurden und verschwanden. Sie hat sie wochenlang verzweifelt gesucht. Eines Tages, als sie in der Küche ihrer Nachbarn beim Essen saß, erfuhr sie dann, dass ihre Kinder unter dem Tisch, an dem sie saß, begraben wurden, nachdem sie von einer Milizengruppe brutal ermordet worden waren. Die Frau, sie heißt Monica, erzählte von ihrem Schmerz, ihrer Verzweiflung und ihrem Versuch, ins Leben zurückzufinden, während der Gedanke an den Verlust ihrer Kinder sie jeden Tag verfolgte. Ihr Zeugnis war überwältigend und lebendig, als ob wir über etwas sprechen würden, was gestern geschah – und nicht vor 27 Jahren. Am Ende erzählte sie uns, dass der Täter, der sie vergewaltigt und ihre vier Kinder ermordet hatte, gefunden und vor Gericht gestellt worden war. Jetzt ist er aus dem Gefängnis entlassen. Sie sind wieder Nachbarn, und sie hat beschlossen, ihm zu vergeben. Monica schaute uns an und sagte, dieser Mann befinde sich im Publikum. Sie schlug ihm vor, ebenfalls Zeugnis abzulegen. Er ging darauf ein, brachte seine Reue zum Ausdruck und versuchte zu erklären, wie er Teil eines mörderischen Mobs geworden war und Dutzende Menschen umgebracht hatte.
Nach solchen Zeugnissen kann es nur Stille und Trauer geben. Das Opfer und den Mörder nebeneinander stehen zu sehen, war ein unvergesslicher und unbeschreiblicher Moment. Ich denke ständig darüber nach, wie so etwas möglich ist – sowohl die unvorstellbaren Grausamkeiten der Vergangenheit als auch die Aussöhnung, die heute stattfindet. Wie kann ein Mensch so viel Kraft besitzen, dass er denjenigen vergibt, die ihn auf so unfassbare Weise verletzt haben? Wie haben dieses Land und sein Volk es geschafft, einen Punkt zu erreichen, in der das Schlimmste im Menschen nun dem Besten im Menschen Platz macht?
„Wie kann ein Mensch so viel Kraft besitzen, dass er denjenigen vergibt, die ihn auf so unfassbare Weise verletzt haben?“
Nach den Zeugnissen bat mich der Veranstalter der Gedenkstunde, ein Wort an das Publikum zu richten, was ich nicht erwartet hatte und worauf ich nicht vorbereitet war. Ich habe spontan und aus dem Herzen über meine eigenen Erfahrungen gesprochen. Ich komme aus Spanien, das vor vielen Jahren unter einem schrecklichen Bürgerkrieg gelitten hat. Viele Menschen stehen sich immer noch feindselig gegenüber und geben einander die Schuld an den Geschehnissen. Aber man kann keine Zukunft aufbauen, indem man sich gegenseitig die Schuld für das gibt, was in der Vergangenheit geschehen ist. Die Ruander sind sich dessen in ihren beachtlichen Anstrengungen zur Aussöhnung bewusst.
Und wie machen sie das? Die Antwort lautet Kwibuka, wie es auf Kinjaruanda heißt, „Erinnerung“, und das Motto der nationalen Gedenkveranstaltung lautet „Erinnerung, Einheit und Erneuerung“.
Erinnerung
Allein schon mit denjenigen, die deine Kinder umgebracht haben, zu sprechen und ihnen zu vergeben, erfordert viel Mut. Aber vergeben ist eine Sache; vergessen eine andere. Die Erinnerung an das Geschehene muss wachgehalten werden, denn Menschen, die sich nicht mehr erinnern, werden zwangsläufig dieselben Fehler wiederholen. Ich habe zu meinen Gesprächspartnern gesagt, dass wir als Europäer niemanden zu belehren haben. Wir haben uns über Jahrhunderte gegenseitig umgebracht, wegen Religion, Rasse, Nationalismus und Ideologien. Aber wir haben auch beschlossen, die Kämpfe zu beenden und eine Einheit auf der Grundlage der Aussöhnung zu schaffen. Aussöhnung beruht auch auf der Erinnerung. Wir wollen gemeinsam eine bessere Zukunft aufbauen, weil wir noch wissen, wie furchtbar unsere Vergangenheit war.
Die Genozid-Gedenkstätte in Kigali, die ich besucht habe, dient diesem Ziel. Es ist die letzte Ruhestätte für mehr als 250 000 Opfer. Selbst heute werden noch Leichen gefunden und an dieser Stätte begraben. Die Gedenkstätte dient der Information und Aufklärung darüber, wie es zu dem Völkermord kommen konnte. Die Geschehnisse bleiben unbegreiflich, doch hilft die Gedenkstätte den Überlebenden in ihrem Heilungsprozess.
Die Gedenkstätte verweist darauf, dass es bei dem Völkermord offensichtlich nicht nur die Hunderttausende von Toten gab. Zehntausende Überlebende wurden gefoltert, vergewaltigt und verstümmelt; Zehntausende litten unter Machetenschnitten, Schusswunden, Infektionen und Hunger. Es gab mehr als 300 000 Waise, und über 85 000 Kinder wurden zum Familienoberhaupt, weil die Älteren ihrer Familie ermordet wurden. Es gab zehntausende Witwen. Viele Frauen wurden Opfer von Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch oder mussten mit ansehen, wie ihre Kinder ermordet wurden. Laut einer UNICEF-Erhebung haben schätzungsweise 80 % der damaligen ruandischen Kinder ein Familienmitglied verloren, und 70 % sahen mit ihren eigenen Augen, wie jemand getötet oder verletzt wurde. Es steht außer Frage, dass viele Menschen in Ruanda auch heute noch unter den traumatischen Auswirkungen des Völkermords leiden.
„Die internationale Gemeinschaft hat sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig gemacht.“
Beim Gedenken an die Katastrophe müssen wir auch das Versagen der internationalen Gemeinschaft betrachten. Die Gedenkstätte belegt eindeutig, dass der Befehlshaber der Einsatzkräfte der Hilfsmission der Vereinten Nationen für Ruanda (UNAMIR), Dellaire, frühzeitig vor den bevorstehenden Ereignissen gewarnt hatte. Aufgrund der Beschränkungen des Mandats der Mission und der mangelnden Unterstützung für ihre Ausweitung wurde die UNAMIR jedoch auf eine Zuschauerrolle reduziert und verhinderte den Völkermord nicht. Die internationale Gemeinschaft hat sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig gemacht, und ich habe die Ruander in meiner Rede gebeten, auch uns zu vergeben.
Einheit
Man kann keine Zukunft aufbauen, indem man sich gegenseitig die Schuld für das gibt, was in der Vergangenheit geschehen ist. So schwierig es auch ist: man muss vergeben, und es muss weitergehen. Auf der Grundlage von Aussöhnung und Vergebung hat Ruanda nach dem Völkermord einen in vielerlei Hinsicht bemerkenswerten Weg zurückgelegt.
Erneuerung
Bei meinem Besuch in Ruanda hatte ich das Privileg, Zeuge einer außergewöhnlichen Lektion von Menschlichkeit zu werden. Ich bin sehr bewegt und tief beeindruckt zurückgekommen. Friedensarbeit fängt bei den Nachbarn an, mit denen man eine gemeinsame Geschichte von Grausamkeit und Schmerz hat. Mit diesen Menschen muss man jedoch seine Zukunft gestalten.
Die beachtlichen Ergebnisse, die Ruanda in den letzten Jahren erzielt hat, sind ein starkes Zeugnis einer solchen Erneuerung. Kwibuka, wie man im schönen „Land der tausend Hügel“ sagt.
Ich möchte zum Abschluss dieses Blogs erwähnen, dass Ruanda mehr als 25 Jahre nach dem Völkermord nicht nur einen erfolgreichen Aussöhnungsprozess durchläuft, sondern auch eine positive wirtschaftliche Entwicklung und gute Fortschritte in den Bereichen Gesundheit und Bildung sowie Armutsbekämpfung verzeichnet. Wenn man in den Straßen von Kigali, einer schönen und sich positiv entwickelnden Stadt, unterwegs ist, kann man spüren, dass sich die Ruander weiterhin für den Aufbau einer besseren Zukunft einsetzen. Um Präsident Kagame zu zitieren: Egal wieviel Geld, egal wieviele Truppen man einsetzt, es gibt keine Lösung, wenn sie nicht von dem starken Willen des Volkes getragen wird, eine gute Regierungsführung aufzubauen. Diesen Willen spürt man im ganzen Land.
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