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Staatsbildung und Sicherheit in Somalia und Stabilisierung am Horn von Afrika

Blogbeitrag des Hohen Vertreters/Vizepräsidenten – Somalia gilt seit Jahrzehnten als gescheiterter Staat, und das Land leidet. Die derzeitige Dürre macht die Lage noch schlimmer. Die EU leistet dem Land wirtschaftliche und humanitäre Hilfe, und unsere Krisenbewältigungsmissionen tragen in einer Region, die für die Sicherheit Europas von entscheidender Bedeutung ist, zur Stabilisierung der Sicherheitslage bei. Ich habe das Land vor Kurzem besucht und konnte mich persönlich davon überzeugen, dass unsere Missionen und Operationen einen entscheidenden Beitrag zur maritimen Sicherheit und zur allgemeinen Stabilisierung der Sicherheitslage leisten.

„Unsere Krisenbewältigungsmissionen tragen zur Stabilisierung der Sicherheitslage in einer Region bei, die für Europa von entscheidender Bedeutung ist.“

 

Somalia befindet sich am Horn von Afrika und hat unter den Ländern auf dem afrikanischen Festland die längste Küste. Seit mehr als 30 Jahren leidet das Land unter einer anhaltenden humanitären Krise sowie fortwährender politischer und sozialer Instabilität. Die Armutsquote beträgt bei 17 Millionen Einwohnern 17 %, die Analphabetenquote mehr als 50 %, und die mittlere Lebenserwartung liegt bei nur 48 Jahren. Aufgrund extremer Dürre, der drohenden Hungersnot (nach aktuellen Angaben der Vereinten Nationen sind mehr als 500.000 Kinder vom Hungertod bedroht) und des Klimawandels, von dessen Auswirkungen vor allem die Schwächsten betroffen sind, sowie der Folgen von COVID-19 und der fortdauernden Konflikte hat sich die humanitäre Lage in den letzten Jahren noch weiter verschlechtert. Durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine wird die Ernährungsunsicherheit nun noch weiter verschärft, denn Nahrungsmittel- und Treibstoffpreise steigen drastisch.

Was hat das ferne Somalia mit Europa zu tun? Erstens: Etwa 40 % der weltweiten Schifffahrtswege und 25 % der Seeschifffahrtsversorgungswege verlaufen durch den Golf von Aden. Wenngleich der Seeräuberei dank internationaler Anstrengungen, in erster Linie durch die EU-Operation Atalanta, weitgehend Einhalt geboten werden konnte, bleibt sie doch eine latente Bedrohung für die maritime Sicherheit; ähnliches gilt für unerlaubte Verkehrsströme auf See und illegalen Handel. Zweitens: Der internationale Terrorismus bedroht uns alle, wenn wir nichts unternehmen. Die Sicherheitslage ist nach wie vor extrem instabil, und wie der Anschlag auf das Hotel Hayat in Mogadischu im vergangenen August gezeigt hat, bei dem 20 Menschen ums Leben gekommen und 120 verletzt worden sind, sind die Terrorvereinigungen Al-Shabaab und Da'esh noch immer aktiv.

All das betrifft uns also. Die Europäische Union muss ihre Bemühungen um Sicherheit und Stabilität in diesem Teil der Welt, wie auch in anderen Teilen der Welt, fortsetzen. Und das tun wir auch. Von 2014 bis 2022 hat die EU mehr als 3,5 Mrd. € investiert, um Somalias Bemühungen um politische, sicherheitspolitische und wirtschaftliche Reformen zu unterstützen und die humanitäre Lage zu verbessern. Diese Unterstützung umfasst Programme für humanitäre Hilfe sowie Kooperationsprogramme in den Bereichen Regierungsführung und Rechtsstaatlichkeit, Friedenskonsolidierung, soziale Inklusion und Bildung sowie Resilienz und Anpassung an den Klimawandel.

Um Frieden und Stabilität im Land zu fördern und dazu beizutragen, dass Somalia wieder selbst die volle Verantwortung für seine Sicherheit übernehmen kann, unterstützen wir Somalia im Rahmen dreier Missionen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP):

  • Die Operation Atalanta dient der Bekämpfung der Kriminalität auf See,
  • EUTM Somalia der Ausbildung somalischer Streitkräfte und im weiteren Sinne dem Aufbau autonomer Streitkräfte (die auch in der Lage sind, ihr Personal selbst auszubilden)
  • und EUCAP Somalia der Beratung von Küstenwache und Polizei.

Am vergangenen Sonntag traf ich den im Mai 2022 vom Parlament gewählten somalischen Präsidenten Hassan Sheikh Mohamud. (Das neue Kabinett ist erst im August 2022 ernannt worden.) Ich habe auch unsere beiden GSVP-Missionen auf dem Festland und das Flaggschiff der Marineoperation Atalanta, die spanische Fregatte „Numancia“, besucht.

Atalanta war die allererste Marineoperation der EU; sie wurde im Jahr 2008 eingeleitet, und sie hat bei der Bekämpfung der Seeräuberei bereits große Erfolge erzielt. Diese Operation ist wohl eine der bemerkenswertesten Erfolgsgeschichten der GSVP. Abgesehen von der Seeräuberei ist Atalanta nun auch mit anderen Sicherheitsherausforderungen auf See befasst, etwa der Bekämpfung des illegalen Handels mit Drogen und Waffen und der illegalen Fischerei.

Die Operation Atalanta ist zu einer Bezugsgröße im Bereich der maritimen Sicherheit geworden, und sie bietet eine Plattform für die Entwicklung unserer Partnerschaften und für gemeinsame Übungen mit Indien, Indonesien, Oman und Japan. Die Operation ist das Hauptelement unserer Präsenz im Indischen Ozean – um die Freiheit der Schifffahrt zu wahren und um zu zeigen, dass die EU entschlossen und in der Lage ist, eine regelbasierte Ordnung durchzusetzen. Sie war und ist bei der Gestaltung der maritimen Dimension der GSVP in einer Vorreiterrolle.

Wenngleich Atalanta ein Erfolg ist, sollte an dieser Stelle fairerweise eingeräumt werden, dass unsere Operationen an Land, EUTM und EUCAP Somalia, bisher nur in begrenztem Rahmen Ergebnisse erzielen. Die somalischen Streitkräfte (Somali National Army – SNA), die Küstenwache und die Polizei stehen bei der Kräfteaufstellung und bei der Effizienz weiterhin vor beträchtlichen Herausforderungen, und bezüglich der Unterstützung der somalischen Behörden durch Beratung und Ausbildung beim Kapazitätsaufbau bleiben die Fortschritte hinter unseren Erwartungen zurück. Wir haben allerdings bereits 8.000 somalische Soldatinnen bzw. Soldaten ausgebildet und werden diese Arbeit fortsetzen, und die SNA hat bereits ihre Kapazitäten aufgestockt, um Personal selbst ausbilden zu können.

Unser Engagement ist Teil der umfassenderen Bemühungen der internationalen Gemeinschaft. Die Übergangsmission der Afrikanischen Union (ATMIS) ist mit einem Mandat der VN ausgestattet, durch das die Staaten der Afrikanischen Union ermächtigt werden, rund 19.000 Uniformierte in das Land zu entsenden, und die EU ist der wichtigste Geldgeber der Mission. Auch andere Länder sind hier aktiv, beispielsweise die Türkei, die eine umfangreiche Ausbildungsmission leitet und den Hafen von Mogadischu kontrolliert.

Durch meinen Besuch bei den Missionen und die Gespräche mit den Soldatinnen und Soldaten und den Ausbildenden hatte ich die Gelegenheit, aus erster Hand zu erfahren, wie unsere Leute vor Ort arbeiten, wie sie unsere Sicherheits- und Verteidigungspolitik in die Realität umsetzen. Ich konnte unseren Leuten nicht nur in Mogadischu, sondern auch in Hargeysa, Garoowe und Berbera meine Anerkennung für ihre harte Arbeit und ihren Einsatz aussprechen. Diese Arbeit, fern der Heimat und nicht selten unter harten und schwierigen Lebensbedingungen, erfordert Mut und Resilienz. Die Einsatzbereitschaft unserer Leute vor Ort ist eine wichtige Voraussetzung für die Förderung und den Schutz der Werte und Interessen der EU. Mit dieser Arbeit werden die Grundlagen geschaffen, um die Sicherheit in der Region zu stabilisieren und zu zeigen, dass die EU Afrikas zuverlässigster Partner ist – die afrikanischen Friedensbemühungen werden in diesem Rahmen durch elf Missionen auf dem afrikanischen Kontinent unterstützt.

Wir beabsichtigen, die somalischen Sicherheitseinrichtungen weiterhin zu stärken und unsere Unterstützung dabei schrittweise zurückzunehmen. Das Ziel ist, dass Somalia bis Ende 2024 selbst die volle Verantwortung für seine Sicherheit übernimmt. Ich habe Präsident Hassan Sheikh Mohamud zugesichert dass unsere Missionen den Streitkräften, der Polizei und der Küstenwache zur Seite stehen und ihnen dabei helfen werden, dieses Ziel zu erreichen. Ich habe auch die Anstrengungen der neuen Führung anerkannt, wirtschaftliche und soziale Reformen zu fördern und die Staatsbildung in Zusammenarbeit mit den föderalen Gliedstaaten voranzubringen. Dabei habe ich unterstrichen, dass die Zusammenarbeit zwischen der Bundesregierung und den föderalen Gliedstaaten unerlässlich ist.

Ich habe jedoch auch betont, dass wir eine stärker auf Gegenseitigkeit beruhende Partnerschaft mit den somalischen Behörden anstreben. Die EU-Unterstützung darf nicht zu einer Selbstverständlichkeit werden, und die europäischen Bürgerinnen und Bürger müssen sehen, dass unser Engagement in Somalia Früchte trägt. Dafür muss die politische Führung Somalias ein sichereres, stabileres und demokratischeres Somalia schaffen, das die Grundversorgung und Sicherheit für seine Bevölkerung gewährleisten kann.

 

 

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"Ein Fenster zur Welt"- Blog des HR/VP Josep Borrell

Blog von Josep Borrell über seine Aktivitäten und die europäische Außenpolitik. Hier finden Sie auch Interviews, Stellungnahmen, ausgewählte Reden und Videos.