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Die Menschen in Belarus fordern mutig den demokratischen Wandel. Die EU muss ihnen zur Seite stehen

22/09/2020 - Seit Wochen gehen die Menschen in Belarus auf die Straße, um gegen die manipulierte Präsidentschaftswahl und die darauf folgende Welle der Unterdrückung zu protestieren. Bei den Massendemonstrationen am vergangenen Sonntag wurde erneut der Rücktritt von Alexander Lukaschenko gefordert. Auf der Tagung der EU-Außenministerinnen und minister haben wir unsere volle Unterstützung bekräftigt: Die Entscheidung über die Zukunft von Belarus muss ganz allein beim belarussischen Volk liegen.

„Die Entscheidung über das Schicksal von Belarus muss ganz allein beim belarussischen Volk liegen.“

Vor der Tagung des Rates (Auswärtige Angelegenheiten) hatten wir ein informelles Frühstückstreffen mit Swetlana Tichanowskaja, einem der führenden Mitglieder des prodemokratischen Koordinierungsrates in Belarus.

Frau Tichanowskaja war bei der Präsidentschaftswahl vom 9. August die wichtigste Gegenkandidatin von Alexander Lukaschenko. In gewisser Weise ist sie zufällig zur Heldin geworden. Sie hat anstelle ihres Ehemannes, eines bekannten Bloggers, der im Mai 2020 verhaftet wurde, kandidiert. Sie war die einzige echte Vertreterin der Opposition, die bei der Wahl kandidieren durfte, nachdem der ehemalige stellvertretende Außenminister Zepkalo und der ehemalige Direktor der Belgazprom-Bank Babariko aus technischen Gründen nicht als Kandidaten zugelassen wurden. Lukaschenko verrechnete sich, als er annahm, dass eine 37-jährige ehemalige Lehrerin und Hausfrau keine Gefahr für ihn darstellen würde. Gemeinsam mit Zepkalos Ehefrau und Marija Kolesnikowa, der Wahlkampfleiterin von Babariko, konnte sie die belarussische Bevölkerung dazu bewegen, gegen Lukaschenko zu stimmen.

Nach der Wahl war Swetlana Tichanowskaja gezwungen, am 11. August das Land zu verlassen; seitdem befindet sie sich in Litauen im Exil. Es war wichtig, zu erfahren, wie sie die jüngsten Entwicklungen, einschließlich der Aussichten auf einen alle Seiten einbeziehenden nationalen Dialog, beurteilt, und von ihr zu hören, wie die EU diesen Dialog und das belarussische Volk in seinem Einsatz für die Demokratie unterstützen kann.

Es ist beeindruckend und bewegend zu sehen, wie Hunderttausende Menschen jedes Wochenende in Belarus auf die Straße gehen, um friedlich, mutig und in Würde zu protestieren.

Sechs Wochen nach der Wahl ist die Lage nach wie vor düster – aber auch inspirierend. Es ist beeindruckend, und – wenn ich so sagen darf – bewegend, zu sehen, wie Hunderttausende jedes Wochenende in Belarus auf die Straße gehen, um friedlich, mutig und in Würde zu protestieren. Die Regierung hat ihrerseits mit immer mehr Verhaftungen, immer größerer Gewalt und immer stärkerer Einschüchterung reagiert.

Von Beginn dieser Krise an hat die Europäische Union deutlich gemacht: Wir erkennen das Ergebnis der Präsidentschaftswahl nicht an, und wir betrachten Alexander Lukaschenko nicht als rechtmäßigen Präsidenten; wir lehnen den Einsatz von Gewalt und die Unterdrückung von Grundrechen und demokratischen Rechten ab; und wir betrachten einen alle Seiten einbeziehenden politischen Dialog mit Neuwahlen, die frei und fair sein müssen, als einzig gangbaren Weg.

Die vier Handlungsschwerpunkte der EU

Bedauerlicherweise ist das Regime seiner Linie treu geblieben. Aus diesem Grund waren die Handlungsschwerpunkte, die wir zur Untermauerung unserer politischen Position setzen wollen, heute das Hauptthema der Beratungen der Ministerinnen und Minister. Wir haben vereinbart, vier grundlegende Handlungsschwerpunkte zu setzen:

Erstens – Sanktionen. Ein Paket mit den Namen von etwa 40 Personen und Einrichtungen wurde vorbereitet; es zielt auf diejenigen ab, die für den Wahlbetrug, die Unterdrückung der friedlichen Proteste und das brutale Vorgehen des Staates verantwortlich sind. Konkret bedeutet dies, dass die Vermögenswerte dieser Personen und Einrichtungen in der EU eingefroren werden, dass diese Personen und Einrichtungen keine Finanzmittel oder Finanzierungen aus der EU erhalten werden, und dass gegen diese Personen ein Einreiseverbot in die EU verhängt wird.

Bedauerlicherweise sind die Sanktionen noch nicht angenommen worden, da hierfür Einstimmigkeit erforderlich ist und ein Mitgliedstaat der EU nicht bereit war, sich dem Konsens anzuschließen. Ich werde den Europäischen Rat auf seiner nächsten Tagung, auf der wir die Beziehungen zur Türkei erörtern werden, über das Ergebnis der Beratungen des Rates (Auswärtige Angelegenheiten) informieren. Die europäischen Führungsspitzen werden Orientierungshilfen für das weitere Vorgehen geben müssen. In der Zwischenzeit werden wir die Liste mit den 40 Namen vor dem Hintergrund der Ereignisse ständig neu bewerten. Ich habe heute deutlich gemacht, dass wir die Pflicht haben, diese Sanktionen anzunehmen. Unsere Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel.

Es ist für die EU an der Zeit, die Dinge beim Namen zu nennen: Alexander Lukaschenko hat jegliche Legitimität verloren.

Bei unserem zweiten Handlungsschwerpunkt stehen die Notwendigkeit eines nationalen Dialogs und die Rolle der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im Mittelpunkt. Da Alexander Lukaschenko schon sehr bald (möglicherweise bereits in dieser Woche) versuchen wird, eine Pseudo-Amtseinführung durchzuführen, ist es für die EU an der Zeit, die Dinge beim Namen zu nennen: Herr Lukaschenko hat jegliche Legitimität verloren.

Es liegt klar auf der Hand, dass der Koordinierungsrat in einen künftigen nationalen Dialog einbezogen werden muss. Dieser Rat fordert in deutlicher Form freie und faire Neuwahlen unter internationaler Beobachtung. Der beste Weg, um eine Krise der politischen Legitimität, wie sie derzeit in Belarus besteht, zu überwinden, ist die Durchführung glaubwürdiger Neuwahlen, bei denen das Volk seinen Präsidenten frei wählen und damit auch die Zukunft des Landes frei bestimmen kann.

Wochenlang hat die belarussische Regierung jeden Dialog mit der Demokratiebewegung und jede internationale Vermittlung durch die OSZE, zu deren Teilnehmerstaaten Belarus gehört, abgelehnt. Trotz dieser bedauerlichen Haltung müssen wir weiterhin alle Optionen prüfen. Deshalb begrüße und unterstütze ich die Aktivierung des Moskauer Mechanismus der OSZE zur Durchführung einer aus Experten bestehenden Untersuchungsmission mit Schwerpunkt auf den mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen. Wir unterstützen auch den Vorschlag von Albanien und Schweden, dem derzeitigen und dem künftigen amtierenden Vorsitz der OSZE, nach Minsk zu reisen. Ich bin selbst bereit, nach Minsk zu gehen, wenn dies zu Fortschritten beitragen kann. Bis jetzt hat Alexander Lukaschenko den Dialog mit der Europäischen Union auf allen Ebenen abgelehnt.

Es sollte keine Einmischung Dritter geben; allein das belarussische Volk darf über das Schicksal des Landes entscheiden.

Wir haben von Anfang an wissen lassen, dass wir als EU keine verborgenen Absichten haben und dass wir einfach wünschen, dass das belarussische Volk seine eigene Zukunft ohne Einmischung von außen gestalten kann. Die Ereignisse in Belarus sind kein geopolitisches Problem; es geht nicht darum, eine Seite zu wählen und sich zwischen der EU und Russland zu entscheiden. Es sollte keine Einmischung Dritter geben; allein das belarussische Volk darf über das Schicksal des Landes entscheiden. Wenn wir das belarussische Volk in seiner Entscheidung für die Demokratie und bei der Wahrung seiner Grundrechte unterstützen, dann tun wir das nicht, um Einfluss auf den Ausgang von Wahlen zu nehmen oder das Land in eine bestimmte Richtung zu drängen. Ich wiederhole: die Entscheidung liegt beim belarussischen Volk.

Wir wissen natürlich um die historischen, politischen und kulturellen Verbindungen zu Russland. Deshalb habe ich bei meinen regelmäßigen Kontakten mit dem russischen Außenminister Lawrow deutlich gemacht, dass der grundsätzliche Standpunkt der EU darin besteht, die Souveränität und Unabhängigkeit von Belarus zu achten – wir wollen niemandem etwas aufzwingen. Ich habe Russland eindringlich aufgefordert, denselben Standpunkt einzunehmen, um Eimischung von außen zu vermeiden. Gleichzeitig kann Russland hilfreich dabei sein, die belarussische Regierung davon zu überzeugen, den Dialog mit der Demokratiebewegung aufzunehmen. Ich werde dies in den nächsten Tagen und Wochen weiterhin mit der russischen Regierung erörtern.

Der dritte Handlungsschwerpunkt besteht darin, eine vollständige Überprüfung der Beziehungen der EU zu Belarus vorzunehmen. Als EU müssen wir in der Lage sein, auf die verschiedenen möglichen Szenarien, die sich in Minsk abzeichnen, strategisch und entschlossen zu reagieren Wir möchten alle Instrumente einsetzen und alle Ebenen der Zusammenarbeit nutzen, und zwar sowohl bilateral als auch regional, einschließlich im Rahmen der Östlichen Partnerschaft. Die Überprüfung wird natürlich gemeinsam mit den Mitgliedstaaten vorgenommen. Ein wichtiger Aspekt, der von den Außenministerinnen und ‑ministern hervorgehoben wurde, ist, dass wir uns darum bemühen müssen, das belarussische Volk – und insbesondere die Zivilgesellschaft und die unabhängigen Medien – weiter zu unterstützen. Vielleicht können wir auch ins Auge fassen, die Kontakte zwischen Studierenden zu verbessern, indem der Austausch mit der EU erleichtert wird.

Deshalb steht bei dem vierten und letzten Handlungsschwerpunkt der EU die Unterstützung des belarussischen Volkes durch die EU im Mittelpunkt. Die Europäische Kommission stellt 53 Millionen Euro Soforthilfe bereit, um das belarussische Volk in diesen schwierigen Zeiten zu unterstützen. Diese Soforthilfe umfasst Rechtsberatung, medizinische Hilfe und weitere Nothilfemaßnahmen für die Bedürftigsten. Sie umfasst auch die Unterstützung der Zivilgesellschaft und der unabhängigen Medien.

Wir prüfen – ebenfalls gemeinsam mit den Mitgliedstaaten –, wie wir unsere Unterstützung in diesem äußerst wichtigen Bereich noch steigern können. Mehrere Mitgliedstaaten sind im Bereich der Unterstützung der Zivilgesellschaft bereits sehr aktiv, und auch hier wird – wie in anderen Bereichen – ein „Team-Europa“-Ansatz, bei dem wir Ressourcen und Expertise bündeln, die größte Wirkung zeitigen.

Die EU wird dem belarussischen Volk, das sich so deutlich für einen demokratische Wechsel einsetzt, zur Seite stehen.

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