Libyen am Scheideweg

„Libyen ist der Schlüssel für die Stabilität im Mittelmeerraum, in Nordafrika und in der Sahelzone. Unsere Sicherheit und unser Wohlstand sind eindeutig miteinander verknüpft: Was gut für Libyen ist, dient auch Europa.“
Ich bin in den letzten zwei Jahren mehrmals nach Libyen gereist und kann die jüngsten Fortschritte auf dem Weg zum Frieden einschätzen. Die politischen Differenzen und die Zersplitterung Libyens bestimmen jedoch nach wie vor ein kompliziertes Szenario, das durch die fehlende Staatsgewalt in weiten Teilen des Landes noch verschlimmert wird. Angesichts dieser Lage kann Gewalt noch immer jederzeit ausbrechen und rasch eskalieren. Keiner der Akteure kann im Alleingang triumphieren, aber jeder kann die anderen zu einer direkten Konfrontation provozieren.
Der schwierige Weg zu den Wahlen
Die derzeitige Übergangsperiode sollte am 24. Dezember mit den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen enden, denen sich jedoch eine Vielzahl von Schwierigkeiten und Widerständen in den Weg stellt. Nationale und internationale Interessenträger werden enorme Anstrengungen unternehmen müssen, um freie, faire und glaubwürdige Wahlen sicherzustellen, deren Ergebnisse von allen akzeptiert werden. Eine gemeinsame Vision für die Zukunft des Landes, Gemeinschaftssinn und Bereitschaft zu Kompromissen können jedoch in der libyschen Bevölkerung weder durch internationalen Druck hervorgebracht noch durch Verfahrensmechanismen ersetzt werden. Es wird in erster Linie an den führenden Politikerinnen und Politikern Libyens selbst liegen, sich der Herausforderung für ihr Land zu stellen.
„Eine gemeinsame Zukunftsvision, ein gemeinsames Ziel und die Kompromissbereitschaft der libyschen Bevölkerung können nicht durch internationalen Druck hervorgebracht werden. Es wird in erster Linie an den führenden Politikerinnen und Politikern Libyens selbst liegen, sich im Dienste ihres Landes dieser Herausforderung zu stellen.“
Premierminister Abdul Hamid Dbaibah, der seit März diesen Jahres im Amt ist, trägt die Hauptverantwortung dafür, den Erfolg des politischen Prozesses in diesem sehr komplexen Umfeld sicherzustellen, wobei sich ihm zusätzliche Herausforderungen stellen, da sich ein Großteil des Staatsgebiets seiner Kontrolle entzieht und ihm noch kein Haushalt zur Verfügung steht.
Frieden in Libyen als Wendepunkt für die Region
Der Frieden in Libyen würde angesichts seiner strategischen Lage im Mittelmeerraum, in Nordafrika und in der Sahelzone sowie angesichts der Größe des Landes und seines wirtschaftlichen Potenzials auch einen Wendepunkt für die Region bedeuten. Mit einer Fläche, die der Frankreichs, Spaniens, Italiens und Deutschlands zusammen entspricht, einer Bevölkerung von nur 7 Millionen Menschen und den größten Ölreserven in Afrika kann sich das Schicksal Libyens sowohl positiv als auch negativ auf die gesamte Region auswirken.
„In Bezug auf die Sicherheit sind die Risiken, die mit der Instabilität in Libyen einhergehen, angesichts der Zahl der in Umlauf befindlichen Waffen und des Potenzials seiner ausgedehnten unkontrollierten Gebiete, zu Zufluchtsorten für Terrorismus und organisierte Kriminalität zu werden, allzu offensichtlich.“
In Bezug auf die Sicherheit sind die Risiken, die mit der Instabilität in Libyen einhergehen, angesichts der Zahl der in Umlauf befindlichen Waffen und des Potenzials seiner ausgedehnten unkontrollierten Gebiete, zu Zufluchtsorten für Terrorismus und organisierte Kriminalität zu werden, allzu offensichtlich. Die derzeitige Krise in der Sahelzone wurde durch die Ereignisse in Libyen im Jahr 2011 ausgelöst, und der Tod des Präsidenten des Tschad Idriss Déby nach Kämpfen mit aus Libyen gekommenen Rebellen unterstreicht eindeutig, dass die Krise fortwährt. Mit dem Frieden in Libyen und einer besseren Kontrolle über den Süden des Landes würde die Sicherheit in Tunesien, Algerien, Tschad, Niger, Sudan und möglicherweise Ägypten erheblich gestärkt.
Was die Wirtschaft anbelangt, so wird der Wiederaufbau Libyens Investitionen in Höhe von rund 100 Mrd. USD erfordern. Das Land verfügt über beträchtliche Einnahmen aus Ölexporten (derzeit 1,2 Mio. Barrel pro Tag) sowie über einen Staatsfonds im Wert von über 60 Mrd. USD. In einer aktuellen Studie der Wirtschafts- und Sozialkommission der Vereinten Nationen für Westasien (externer Link) wird geschätzt, dass der Frieden in Libyen zu Gesamtgewinnen für die Region in Höhe von mehr als 160 Mrd. USD im Zeitraum 2021-2025 führen würde und dass die Arbeitslosigkeit in Tunesien um etwa 6 %, in Ägypten um 9 % und im Sudan um 14 % zurückgehen würde. Dies sind eindrucksvolle Daten.
Auch auf die Migration hätte der Frieden in Libyen erhebliche Auswirkungen. In dem Land wurden vor der Revolution rund 2,5 Millionen ausländische Arbeitskräfte beschäftigt, und es wird davon ausgegangen, dass in den kommenden Jahren 3 Millionen Arbeitskräfte für den Wiederaufbau benötigt werden. Die Heimatüberweisungen beliefen sich 2013 auf 3 Mrd. USD, wobei diese fast ausschließlich in die libysche Nachbarschaft nach Ägypten und Tunesien gingen.
„Es ist schwierig, sich auch nur eine einzige andere EU-Politik vorzustellen, die ebenso wirksam wie die Förderung von Frieden und Stabilität in Libyen zur Verwirklichung unserer Prioritäten in der Region beitragen würde.“
Aufgrund dieses Potenzial ist es schwierig, sich auch nur eine einzige andere EU-Politik vorzustellen, die ebenso wirksam wie die Förderung von Frieden und Stabilität in Libyen zur Verwirklichung unserer Prioritäten in der Region beitragen würde. Dies bringt uns zu der Frage, wie wir unseren Beitrag zum Frieden weiter verbessern können.
Beim Institutionenaufbau und dem Wiederaufbau der Wirtschaft in einem Postkonfliktland könnte unsere Hilfe von erheblicher Bedeutung sein, und die libyschen Behörden sind sich unserer Bereitschaft, sie in einem solchen Kontext zu unterstützen, sehr wohl bewusst. Die Governance, auch im wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Bereich, könnte einen Schwerpunkt unserer Zusammenarbeit darstellen. Es wären keine umfangreichen Hilfsgelder erforderlich, da Libyen in der Lage ist, seine Entwicklung selbst zu finanzieren, aber gemeinsam mit unseren Mitgliedstaaten können wir einen Mehrwert erzielen, indem wir technisches Fachwissen bereitstellen, bei der Suche nach ausländischen Investitionen helfen und für Koordinierung mit internationalen Finanzinstitutionen sorgen.
Unmittelbare Priorität: Festigung von Frieden und Stabilität
Allerdings haben wir dieses Ziel noch nicht erreicht. Die unmittelbare Priorität ist die Festigung von Frieden und Stabilität. Auch hier leistet die Europäische Union durch ihre Marineoperation IRINI weiterhin einen wichtigen Beitrag zur Umsetzung des Waffenembargos des VN-Sicherheitsrates und könnte im Zusammenhang mit einem Stabilisierungsrahmen der VN weitere Unterstützung im Bereich Sicherheit und Verteidigung in Betracht ziehen.
Die Wahlen im Dezember sind ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu einer politischen Aussöhnung. Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Libyen verfügt über das direkte Mandat, in diesem Zusammenhang zu vermitteln, und wir unterstützen ihre Bemühungen nachdrücklich.
Laufende Gespräche über Politik, Sicherheitspolitik und Wirtschaft
Auf politischer, sicherheitspolitischer und wirtschaftlicher Ebene laufen Gespräche, an denen sich die EU und die Mitgliedstaaten aktiv beteiligen. Als Ko-Vorsitzende der Arbeitsgruppe „Wirtschaft“ (gemeinsam mit den Vereinten Nationen, den USA und Ägypten) ist die EU insbesondere bestrebt, dafür zu sorgen, dass die Wirtschaft zu einer treibenden Kraft für den Frieden und nicht wie bisher für den Konflikt wird. Es wurden bereits einige Fortschritte erzielt, und der Schwerpunkt liegt nun auf der Wiedervereinigung der Wirtschaftsinstitutionen.
Wir müssen diese Gespräche jedoch dringend intensivieren, da die politische Energie in der derzeitigen Dynamik nicht ausreichen wird, um eine tragfähige politische Einigung zu erzielen. Die EU und die Mitgliedstaaten sollten in der Lage sein, den Prozess wirksamer zu beeinflussen, aber dies kann nur geschehen, wenn wir gemeinsam handeln: Die EU muss mit einer Stimme sprechen, wenn sie einen sinnvollen Beitrag leisten will.
„Die EU und die Mitgliedstaaten sollten in der Lage sein, den Friedensprozess in Libyen wirksamer zu beeinflussen, aber dies kann nur geschehen, wenn wir gemeinsam handeln: Die EU muss mit einer Stimme sprechen, wenn sie einen sinnvollen Beitrag leisten will.“
Zuletzt möchte ich noch das Thema Migration ansprechen. Wir müssen zunächst die sehr spezielle Situation Libyens verstehen. Es teilt seine mehr als 4 000 km lange Grenze mit sechs Ländern (Ägypten, Sudan, Tschad, Niger, Algerien und Tunesien), in denen über 200 Millionen Menschen leben, die allesamt erheblich ärmer sind als die 7 Millionen Bürgerinnen und Bürger Libyens. Die Grenze ist in vielen Gebieten kaum mehr als eine Linie im Sand, wobei noch erschwerend hinzukommt, dass das fragile ethnische Gleichgewicht im Süden durch Migrationsströme aus Nachbarländern beeinträchtigt werden könnte.
In diesem Zusammenhang müssen wir uns selbstverständlich dringend mit der humanitären Lage der Migrantinnen und Migranten sowie der Flüchtlinge befassen. Die entsetzlichen Bedingungen in den Hafteinrichtungen sind inakzeptabel, und die Verbesserung der Behandlung von Migrantinnen und Migranten wird für unsere Arbeit in diesem Bereich von zentraler Bedeutung sein.
„In diesem Zusammenhang müssen wir uns selbstverständlich dringend mit der humanitären Lage der Migrantinnen und Migranten sowie der Flüchtlinge befassen. Die entsetzlichen Bedingungen in den Hafteinrichtungen sind inakzeptabel, und die Verbesserung der Behandlung von Migrantinnen und Migranten wird für unsere Arbeit in diesem Bereich von zentraler Bedeutung sein.“
Die libyschen Behörden fordern eindeutig eine Verstärkung der EU-Unterstützung im Süden des Landes, indem die EU-Mission zur Unterstützung des Grenzschutzes und unsere sonstigen Instrumente dazu genutzt werden, einen integrierten Ansatz zu schaffen, der Grenzmanagement und Sicherheit mit der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Verbesserung der Grundversorgung verknüpft. Es muss jedoch beachtet werden, dass es unter den derzeitigen Umständen aufgrund der Sicherheitslage in der Region eine stabile internationale Präsenz vor Ort undenkbar ist.
Ein ausgewogeneres Migrationskonzept für Libyen, über das bereits beraten wird, sollte Folgendes umfassen: ein wirksames Grenzmanagement im Norden und im Süden des Landes, den Schutz besonders gefährdeter Migrantinnen und Migranten sowie Flüchtlinge und eine Steuerung der Migration, insbesondere in Bezug auf ausländische, für den Wiederaufbau benötigte Arbeitskräfte.
Unsere Sicherheit und unser Wohlstand sind eindeutig miteinander verknüpft
Libyen ist ein wichtiger Akteur für die Stabilität im Mittelmeerraum, in Nordafrika und in der Sahelzone. Unsere Sicherheit und unser Wohlstand sind eindeutig miteinander verknüpft: Was gut für Libyen ist, dient auch Europa. Wir stehen bereit, unseren Teil zu leisten, und ich sehe einer baldigen Rückkehr nach Libyen erwartungsvoll entgegen.
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